EuGH: Kein «cherry picking» bei Betriebsübergang im Rahmen eines (belgischen) Sanierungsverfahrens

RL 2001/23/EG Art. 3 bis 5; Art. 22, 60, 61 § 4 des belgischen Gesetzes über die Kontinuität der Unternehmen (Wet betreffende de continuïteit van de ondernemingen)

Die Richtlinie 2001/23/EG, insbesondere ihre Art. 3 bis 5, ist dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die im Fall eines Unternehmensübergangs im Rahmen eines gerichtlichen Reorganisationsverfahrens, welches die Gesamtheit oder einen Teil des Unternehmens des Veräußerers oder seiner Tätigkeiten erhalten soll, für den Erwerber das Recht vorsehen, die Arbeitnehmer auszuwählen, die er übernehmen möchte. (durch den Verfasser gekürzter Leitsatz des Gerichts)

EuGH, Urteil vom 16.5.2019 - C-509/17, BeckRS 2019, 8738

Anmerkung von
Patrick Ehret, Rechtsanwalt, Avocat, Spécialiste en Droit international et de l'Union européenne, DEA Droit des Communautés Européennes, Schultze & Braun GmbH Rechtsanwaltsgesellschaft

Aus beck-fachdienst Insolvenzrecht 17/2019 vom 23.08.2019

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Sachverhalt

Die Klägerin war bei der belgischen Gesellschaft Echo NV seit fast 20 Jahren beschäftigt als diese bei zuständigen Handelsgericht einen Antrag auf Eröffnung eines Sanierungsverfahrens, des sog. Verfahrens der gerichtlichen Reorganisation, stellte. Ziel eines solchen Eigenverwaltungsverfahrens ist es, während des mehrmonatigen Zahlungsaufschubs eine Einigung mit den Gläubigern zu ermöglichen. Nach Umstellung des Verfahrens und der gerichtlichen Bestellung zwei Verwalter wurde eine Übertragung der Assets der Echo NV „unter der Autorität des Gerichts“ an einen der beiden per Ausschreibung ausfindig gemachten Interessenten per Urteil gerichtlich genehmigt.

Entsprechend der Vorschrift des Art. 61 § 4 der Wet betreffende de continuïteit van de ondernemingen (Gesetz über die Kontinuität der Unternehmen) vom 31.1.2009 hatte der Erwerber per Liste die zu übernehmenden Arbeitnehmer benannt. Der Klägerin wurde am Tag nach der gerichtlichen Genehmigung und Unterzeichnung der Übertragungsvereinbarung und vor deren Inkrafttreten seitens ihres Arbeitgebers gekündigt.

Nach Abweisung der Klage auf Übernahme des Arbeitsverhältnisses durch den Erwerber seitens des Arbeitsgerichts erster Instanz hat die belgische Berufungsinstanz das Verfahren ausgesetzt und den EuGH mit der Frage nach der Vereinbarkeit der belgischen Gesetzeslage mit der Betriebsübergangsrichtlinie befasst.

Entscheidung

Die Betriebsübergangsrichtlinie definiert in ihrem Art. 3 den Grundsatz der Übernahme der bestehenden Arbeitsverhältnisse beim Betriebsübergang durch den Erwerber. Der Betriebsübergang darf ferner nicht als Kündigungsgrund gewertet werden (Art. 4). Diese Bestimmung steht jedoch etwaigen Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, nicht entgegen.

Der EuGH stellt klar, dass – sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen - die Art. 3 und 4 der Betriebsübergangsrichtlinie gemäß Art. 5 dann nicht greifen, wenn bzgl. des Veräußerers unter der Aufsicht einer zuständigen Stelle ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde.

In der sich anschließenden Prüfung führt er aus, dass die eng auszulegende Ausnahmevorschrift im vorliegenden Fall nicht greife, da die drei kumulativen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Zum einen handele es sich bei dem streitgegenständlichen Verfahren nicht um ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Insolvenzverfahren. Ferner sei das Verfahren auf die Fortführung der Geschäftstätigkeit gerichtet und somit kein „Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Veräußerers“. Schließlich bleibe die Kontrollintensität durch die gerichtlich bestellten Verwalter, deren Aufgabe es im Wesentlichen sei, den Erwerber u.a. unter Berücksichtigung der Gläubigerrechte auszuwählen und den Betriebsübergang zu organisieren, hinter der eines Konkursverfahrens zurück.

Im Anschluss daran prüft der EuGH inwieweit die Richtlinie, nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die es dem Erwerber erlauben, die Arbeitnehmer auszuwählen, die er übernehmen möchte. Ziel der Richtlinie sei es, die Rechte der Arbeitnehmer zu wahren und die Arbeitsverhältnisse in unveränderter Form mit dem Erwerber fortzusetzen, um eine Verschlechterung der Lage der Arbeitnehmer allein aufgrund des Betriebsübergangs zu verhindern. So müssten Kündigungen, die im Kontext eines Betriebsübergangs erfolgten, aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die nicht unmittelbar an den Übergang anknüpfen, gerechtfertigt werden. Dies sei im belgischen Recht nicht gewährleistet. Zwar müssten für die Auswahl der zu übernehmenden Arbeitnehmer gemäß des belgischen Rechts wirtschaftliche, technische und organisatorische Gründe angeführt werden. Allerdings müsse der Erwerber ja gerade nicht nachweisen, dass die Kündigungen Gründen technischer, wirtschaftlicher oder organisatorischer Natur geschuldet seien, so dass der Schutz der Arbeitnehmer vor ungerechtfertigten Kündigungen ernsthaft gefährdet sei.

Der EuGH schließt mit dem Hinweis, dass die Richtlinie keine horizontale Wirkung entfalte. Sofern es dem mitgliedstaatlichen Gericht nicht möglich sei, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen, sei es nicht verpflichtet, die gegen die Richtlinie verstoßenden Vorschriften anzuwenden. Vielmehr könne der Arbeitnehmer dann gegen den Mitgliedstaat, der die Richtlinie nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe, Schadensersatz geltend machen.

Praxishinweis

Der EuGH setzt seine arbeitnehmerschützende Rechtsprechung bei Betriebsübergängen in einem insolvenzbezogenen Restrukturierungsumfeld fort. Hatte der Gerichtshof in seiner Entscheidung zum niederländischen Prepack (Urt. v. 22.6.2017, C-126-16, Federatie Nederlandse Vakvereniging, BeckRS 2017, 113943, FD-InsR 2017, 393124 (Freund)) bei der Prüfung der Ausnahmeregelung noch das Vorliegen eines Konkursverfahren bejaht, wird dies in vorliegenden Fall verneint. Indessen hatte Belgien in der auf den Sachverhalt anwendbaren Fassung der EuInsVO das streitgegenständliche Verfahren (De gerechtelijke reorganisatie door overdracht onder gerechtelijk gezag/La réorganisation judiciaire par transfert sous autorité de justice) als Liquidationsverfahren gemäß Art. 2 c in Anhang B aufnehmen lassen. Im Gegensatz zu den Schlussanträgen des Generalanwalts (Rdnr. 56 ff.) geht der Gerichtshof bei Prüfung der Ausnahmeregelung des Art. 5 mitnichten auf diesen Umstand ein. Inzident geht er wohl mit der Auffassung des Generalanwalts konform, dass die Aufnahme in Anhang A oder B der EuInsVO lediglich „für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung“ gelte.

Bedauerlicherweise gibt die Entscheidung wenig Aufschluss, wie die Voraussetzungen zu erfüllen sind, um die Ausnahmeregelung des Art. 5 zur Anwendung kommen zu lassen. Insbesondere bleibt offen, wie die gerichtliche Kontrolle ausgestaltet sein muss, um nicht hinter der eines Konkursverfahrens zurückzubleiben. Hier ist bereits fraglich, ob angesichts der Diskrepanzen zwischen den mitgliedstaatlichen Insolvenzrechten im Hinblick auf die Intensität richterlicher Kontrolle einheitliche Kriterien möglich sind.

Einem „cherry picking“, daher eine Auswahl der zu übernehmenden Arbeitnehmer nach dem Gusto des Erwerbers des Betriebs aus der Insolvenz, erteilt der EuGH eine klare Absage. Die Rechtslage sowohl in Deutschland als auch in Frankreich dürfte diesbezüglich als unionsrechtskonform einzustufen sein. Die BAG Rechtsprechung zum Erwerberkonzept ermöglicht dem Insolvenzverwalter auf Grundlage eines vom Betriebserwerber ausgearbeitetem Sanierungskonzept einen Personalabbau vorzunehmen. Allerdings kommt auch in diesem Rahmen das Kündigungsschutzgesetz und die Sozialauswahl zur Anwendung. Das frz. Recht ermöglicht es, dem Erwerber im Rahmen einer übertragenden Sanierung den Bedarf an Personal abstrakt zu definieren. Die Sozialauswahl und die Entlassungen werden nach der richterlichen Bestätigung des Erwerbers durch den Insolvenzverwalter vorgenommen.

Redaktion beck-aktuell, 23. August 2019.