FG München: Ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel an der Erhebung von Säumniszuschlägen bei Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Steuerpflichtigen ab 2015

FGO §§ 69 II 2, III 1, 102 S.1; GG Art. 14, 100 I; AO §§ 5, 34 I 1, 69, 191 I, 163, 227, 240 I 1, 233a, 238 I

1. Nach dem Zweck der Ermächtigung zur Inanspruchnahme des Haftenden durch einen Haftungsbescheid nach § 191 Abs. 1 AO hat die Finanzbehörde bei der Ausübung des Entschließungsermessens auch zu berücksichtigen, ob die Steuer, für die gehaftet wird, in Zukunft erlassen werden kann oder muss.

2. Wird die Geschäftsführerin einer GmbH nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH für Umsatzsteuerverbindlichkeiten der GmbH und darauf entfallende Säumniszuschläge durch einen Haftungsbescheid in Anspruch genommen, so bestehen ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel an der Inanspruchnahme für den Teil der Säumniszuschläge, die nach der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind und vom FA nicht erlassen worden sind.

3. Ein Säumniszuschlag in Höhe von 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags (§ 240 Abs. 1 S. 1 AO) ist grundsätzlich verfassungsgemäß; daran hat sich auch dadurch nichts geändert, dass inzwischen gegen die Höhe des Zinssatzes bei den sog. Nachzahlungszinsen gem. § 233a AO jedenfalls ab dem Verzinsungszeitraum 2015 schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel bestehen (zu Letzterem BFH, NJW 2018, 2349). Die Anwendung des § 240 AO begegnet jedoch dann schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln, wenn die Säumniszuschläge wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Steuerpflichtigen teilweise zu erlassen sind; in diesem Fall sind sie sowohl ihrem verbleibenden Zweck nach als auch der Höhe nach mit einer Verzinsung vergleichbar. (amtl. Leitsätze)

FG München, Beschluss vom 13.08.2018 - 14 V 736/18, BeckRS 2018, 19590

Anmerkung von
Rechtsanwalt, Steuerberater Arno Abenheimer, Fachanwalt für Steuerrecht, Schultze & Braun GmbH Steuerberatungsgesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Aus beck-fachdienst Insolvenzrecht 20/2018 vom 05.10.2018

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Insolvenzrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Insolvenzrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Insolvenzrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de


Sachverhalt

Die Geschäftsführerin einer GmbH hatte Umsatzsteuervoranmeldungen betreffend Voranmeldungszeiträume in den Jahren 2014 und 2015 entweder unter Anmeldung einer zu niedrigen Umsatzsteuer oder überhaupt nicht abgegeben, was sie im Mai 2016 berichtigte bzw. nachholte. Die dadurch festgesetzte Umsatzsteuer wurde von der GmbH bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht entrichtet, weshalb das Finanzamt die Geschäftsführerin mit Haftungsbescheid gemäß § 191 AO i.V.m. § 69 AO in Anspruch nahm. Die Haftungssumme umfasst neben der rückständigen Umsatzsteuer auch Säumniszuschläge. Diejenigen Säumniszuschläge, welche vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirkt waren, hatte das Finanzamt in vollem Umfang angesetzt, wohingegen es diejenigen Säumniszuschläge, die seit der Antragstellung verwirklich worden waren, zur Hälfte angesetzt hatte.

Nachdem das Finanzamt den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids abgelehnt hatte, wurde der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht gestellt.

Entscheidung

Das Finanzgericht erachtete den Antrag (nur) insoweit als begründet, als in den Haftungsbescheid Säumniszuschläge aufgenommen worden waren, welche nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden sind. Im Übrigen wurde der Antrag zurückgewiesen.

Gem. § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO soll das FG die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts u.a. aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit bestehen. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken. Dabei kann es sich auch um verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm handeln. Trotz des dem BVerfG vorbehaltenen Verwerfungsmonopols sind die Fachgerichte nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird.

Nach Auffassung des Finanzgerichts hätte das Finanzamt bei der Ausübung seines Ermessens in Bezug auf den Haftungsumfang berücksichtigen müssen, ob die Säumniszuschläge, für die gehaftet wird, in Zukunft erlassen werden können oder müssen. Dies ist vorliegend nicht geschehen, weshalb das Gericht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids insoweit hat, als vom Haftungsumfang Säumniszuschläge umfasst sind, die nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirkt wurden.

Ernstlich zweifelhaft ist, ob das Finanzamt sein Ermessen hinsichtlich der Haftung für die ab dem Antrag auf Insolvenz entstandenen Säumniszuschläge zutreffend ausgeübt hat, weil gegen die Höhe der für diesen Zeitraum bislang vom Finanzamt berücksichtigten Säumniszuschläge die gleichen schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Bedenken wie gegen die Höhe der Verzinsung nach § 233a AO bestehen. Insoweit liegt deren vollständiger Erlass nahe, weshalb der Haftungsbescheid im betreffenden Umfang auszusetzen ist.

Im Rahmen des § 191 Abs. 1 AO hat das Finanzamt eine Ermessensentscheidung zu treffen, die vom Finanzgericht nur darauf zu überprüfen ist, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Nach dem Zweck der Ermächtigung zur Inanspruchnahme des Haftenden nach § 191 Abs. 1 AO hat die Finanzbehörde bei der Ausübung des Entschließungsermessens auch zu berücksichtigen, ob die Steuer, für die gehaftet wird, in Zukunft erlassen werden kann oder muss. Im Rahmens des summarischen Verfahrens um den vorläufigen Rechtsschutz bejaht das Finanzgericht, dass die vorliegend diskutierten Säumniszuschläge vollständig zu erlassen sind, da sie trotz des bereits erfolgten hälftigen Erlasses als übermäßig erscheinen.

Diese Einschätzung begründet das Finanzgericht unter Bezugnahme auf den Beschluss des BFH vom 25.04.2018 (NJW 2018, 2349) damit, dass der Säumniszuschlag als Druckmittel eigener Art bei Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung in seiner Funktion auf die Verzinsung der Steuerforderung reduziert wird. Die Erhebung von Säumniszuschlägen begegnet dann schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln, wenn die Säumniszuschläge wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Steuerpflichtigen teilweise zu erlassen sind. Denn dann sind sie sowohl ihrem verbleibenden Zweck nach als auch der Höhe nach mit einer Verzinsung vergleichbar. In diesem Fall liegt ein vollständiger Erlass der Säumniszuschläge nahe. Im Falle der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung sind die nach einem Teilerlass verbleibenden Säumniszuschläge mit der Verzinsung bei der Aussetzung der Vollziehung vergleichbar. Gegen deren Höhe bestehen die gleichen verfassungsrechtlichen Zweifel wie bei der Verzinsung nach § 233a AO.

Praxishinweis

In diesem Beschluss nimmt das Finanzgericht München die sowohl in der Fach- als auch in der Populärliteratur schon lange diskutierte Frage auf, ob der Zinssatz der Vollverzinsung und der Aussetzung der Vollziehung angesichts der wirtschaftlichen Gegebenheiten noch zeitgemäß ist. Der BFH hat diesbezüglich in seinem Beschluss vom 25.04.2018 (a.a.O.) schwerwiegende verfassungsrechtlich Zweifel an der Höhe des Zinssatzes gem. § 233a AO geäußert und diese Frage dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Das Finanzgericht München schließt sich dieser Beurteilung des BFH für die vorstehend dargestellte Situation an, in der Säumniszuschläge für einen Zeitpunkt verwirkt werden, in dem Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung vorliegen. Auf Grund dieser Entwicklung ist sowohl gegen Zinsfestsetzungen betreffend Nachzahlungszinsen, als auch gegen die Festsetzung von AdV-Zinsen oder Stundungszinsen Einspruch einzulegen. Darüber hinaus sind Erlassanträge in Bezug auf Säumniszuschläge zu stellen. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.

Redaktion beck-aktuell, 9. Oktober 2018.