BAG: Außerordentliche betriebsbedingte Kündigung: «Clearingverfahren» reicht nicht aus

BGB § 626 I; KSchG § 1 III

1. Bei außerordentlichen betriebsbedingten Kündigungen muss der Arbeitgeber in besonderem Maß versuchen, die Kündigung zu vermeiden. Besteht irgendeine Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis sinnvoll fortzuführen, muss er den Arbeitnehmer entsprechend einsetzen.

2. Es genügt nicht, wenn der Arbeitgeber auf die erfolglose Durchführung eines internen Stellenbesetzungsverfahrens verweist und sich darauf beruft, die jeweiligen Fachbereiche hätten den Arbeitnehmer abgelehnt.

3. Auch bei außerordentlichen betriebsbedingten Kündigungen ist entsprechend § 1 III KSchG eine Sozialauswahl durchzuführen, die auch nicht abbedungen werden kann.

BAG, Urteil vom 27.06.2019 - 2 AZR 50/19 (LAG Hessen), BeckRS 2019, 18626

Anmerkung von
RA Dr. Stefan Lingemann, Gleiss Lutz, Berlin

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 37/2019 vom 19.09.2019

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Sachverhalt

Der schwerbehinderte Kläger war bei der Beklagten, einem internationalen Luftfahrtunternehmen, beschäftigt und tariflich ordentlich unkündbar. 2014 wurde die Abteilung des Klägers an einen anderen Standort verlagert. Der Interessenausgleich sah ein in Tarifvertrag und Konzernbetriebsvereinbarung geregeltes internes Stellenbesetzungsverfahren („Clearingverfahren“) vor, bei dem sich die betroffenen Arbeitnehmer auf freie Arbeitsplätze im Konzern der Beklagten bewerben konnten. Der Kläger nahm hieran über 3 Jahre mit 7 Vorstellungsgesprächen auf 9 Stellenausschreibungen teil, die Fachbereiche lehnten ihn jedoch jeweils ab. Nach Anhörung des Betriebsrats, Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung und Zustimmung des Integrationsamts kündigte die Beklagte sein Arbeitsverhältnis im September 2017 außerordentlich mit Auslauffrist. Seine Kündigungsschutzklage hatte vor dem ArbG und dem LAG Erfolg.

Entscheidung

Die Revision der Beklagten wurde zurückgewiesen.

Die Kündigung sei unwirksam, die Beklagte habe weder das Fehlen von Beschäftigungsmöglichkeiten für den Kläger dargelegt noch die notwendige Sozialauswahl durchgeführt.

Eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung komme in Betracht, wenn die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung ausgeschlossen sei und dies dazu führe, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer andernfalls trotz Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit noch für Jahre vergüten müsse, ohne dass dem eine entsprechende Arbeitsleistung gegenüberstünde. Der Arbeitgeber müsse dann aber in besonderem Maße versuchen, die Kündigung zu vermeiden. Bestehe irgendeine Möglichkeit zu einer sinnvollen Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, sei der Arbeitnehmer i.d.R. entsprechend einzusetzen. Erst wenn sämtliche denkbaren Alternativen ausschieden, komme eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung in Betracht. Dem Arbeitgeber obliege es, Entsprechendes im Prozess darzulegen. Der bloße Verweis des Arbeitgebers auf die Durchführung eines ergebnislos gebliebenen Clearingverfahrens reiche dazu nicht aus. Es habe ausschließlich freie und zu besetzende Arbeitsplätze zum Gegenstand. Die Beklagte hätte aber darlegen müssen, dass auch eine Umorganisation und das „Freimachen“ geeigneter gleichwertiger Arbeitsplätze nicht in Betracht gekommen seien oder keine Möglichkeit bestanden habe, das Arbeitsverhältnis – ggfs. zu geänderten Bedingungen – sinnvoll fortzusetzen. Auch hätte die Beklagte bei den in ihrem Unternehmen zu besetzenden Stellen die Eignung des Klägers selbst prüfen müssen und sich nicht allein auf die von ihren Fachbereichen erklärte Ablehnung berufen dürfen.

Die Beklagte habe zudem eine entsprechend § 1 III KSchG erforderliche Sozialauswahl nicht durchgeführt. Der Arbeitgeber habe bei außerordentlichen betriebsbedingten Kündigungen zumindest die Schranken zu beachten, die den Arbeitnehmer im Falle einer ordentlichen Kündigung schützten. In Konkurrenzsituationen sei er entsprechend § 1 III KSchG zu einer Sozialauswahl verpflichtet. Die Durchführung eines internen Clearingverfahrens nach Maßgabe kollektivrechtlicher Regelungen führe nicht zur Entbehrlichkeit einer Sozialauswahl und könne eine solche auch nicht ersetzen, da es sich nur mit alternativen freien Beschäftigungsmöglichkeiten befasse. Deren Fehlen sei aber Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Sozialauswahl durchzuführen sei.

Praxishinweis

Interne Stellenbesetzungsverfahren (Clearingverfahren) sind in der Praxis ein verbreitetes Instrument, um die Probleme der anderweitigen Beschäftigung bei Umstrukturierungen zu meistern. Der Arbeitgeber muss sich jedoch jedenfalls vor außerordentlichen Kündigungen ein eigenes Bild von der Eignung des Arbeitnehmers für eine freie Stelle machen, auch die Sozialauswahl ersetzt das Clearingverfahren nicht.

Redaktion beck-aktuell, 20. September 2019.