BAG: Mindestlohnwirksamkeit von Sonderzahlungen

BGB §§ 362 I, 366 I; MiLoG §§ 1 I, II, 3

Eine Anrechnung von Sonderzahlungen auf den Mindestlohnanspruch kommt nur dann in Betracht, wenn die vertraglich vereinbarte Grundvergütung nicht ausreicht, den gesetzlichen Mindestlohnanspruch zu erfüllen.

BAG, Urteil vom 11.10.2017 - 5 AZR 621/16 (LAG Bremen), BeckRS 2017, 133645

Anmerkung von
Rechtsanwältin Dr. Doris-Maria Schuster, Gleiss Lutz, Frankfurt a.M.

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 01/2018 vom 11.01.2018

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Sachverhalt

Die Klägerin ist seit Oktober 1999 auf Basis einer geringfügigen Beschäftigung bei der Beklagten tätig. Bis 2014 erhielt sie einen Stundenlohn von 6,36 EUR brutto sowie eine Anwesenheitsprämie. Im Mai 1996 legte die Beklagte die Anwesenheitsprämie gegenüber der Belegschaft sinngemäß wie folgt fest: Es wird eine monatliche Anwesenheitsprämie i.H.v. 100 DM unter der Bedingung gezahlt, dass der Arbeitnehmer keine Krankheitstage im Monat hat. Bei ein bis drei Krankheitstagen reduziert sich die Prämie auf 25 DM. Sie entfällt bei mehr als drei Fehltagen. Mit Betriebsvereinbarung von April 2007 bestätigten die Beklagte und ihr Betriebsrat den Fortbestand der Regelung. Im Oktober 2014 schlossen die Parteien einen Nachtrag zum Anstellungsvertrag von 1999, in dem sie die Vergütung pro Zeitstunde ab 01.01.2015 auf 8,50 EUR brutto erhöhten. Ab Februar 2015 zahlte die Beklagte der Klägerin den vereinbarten Mindestlohn, auf den sie die Anwesenheitsprämie anrechnete. In der Lohnabrechnung erschien neben dem Mindestlohn unter Lohnart ein Endbetrag, der mit „davon Anw.prämie“ bezeichnet wurde.

Die Klägerin verlangt mit ihrer Klage Zahlung der „ungeschmälerten“ Anwesenheitsprämie neben dem Mindestlohn. Erstinstanzlich hatte sie Erfolg. Auf die Berufung der Beklagen hob das LAG das erstinstanzliche Urteil auf. Mit der Revision begehrt die Klägerin Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Entscheidung

Die Revision der Klägerin hatte Erfolg.

Nach Ansicht des BAG hatten zwar beide Instanzgerichte die Anwesenheitsprämie zu Recht als eine mindestlohnwirksame Sonderzahlung eingeordnet. Dies sei bei Sonderzahlungen immer dann anzunehmen, wenn sie als Entgelt im Zusammenhang mit der tatsächlichen Arbeitsleistung gezahlt würden. Dies sei bei Anwesenheitsprämien der Fall. Sie werden nicht nur für die bloße Anwesenheit im Betrieb, sondern dafür gezahlt, dass der Beschäftige eine tatsächlich Arbeitsleistung erbringt. Das belege die Staffelung nach der Zahl der Krankheitstage.

Eine Anrechnung von Sonderzahlungen auf den Mindestlohn sei nur unter der Voraussetzung möglich, dass die für die geleisteten Arbeitsstunden vertraglich vereinbarte Grundvergütung nicht ausreiche, um den gesetzlichen Mindestlohnanspruch zu erfüllen. Nur dann entstehe ein Differenzanspruch nach § 3 MiLoG, der mit Zusatzzahlungen erfüllt werden könne. Hier habe der Arbeitgeber den gesetzlichen Mindestlohnanspruch durch die Lohnzahlung erfüllt, weshalb die Anwesenheitsprämie einen selbständigen Entgeltbestandteil darstelle.

Zudem hätten die Parteien individualrechtlich keine Anrechnung vereinbart. Weder die Betriebsvereinbarung noch die individualrechtliche Zusatzvereinbarung seien als solche auszulegen. Ein durchschnittlicher, rechtsunkundiger Arbeitnehmer dürfe die individualrechtliche Vereinbarung vom Oktober 2014 so verstehen, dass sein Bruttolohn auf das gesetzliche Lohniveau angehoben und die in der Betriebsvereinbarung festgelegten Zusatzleistungen unverändert weitergewährt werden.

Die Bezeichnungen „davon Anw.prämie“ in der Lohnabrechnung spreche zudem für eine Tilgungsbestimmung dahingehend, dass mit der Zahlung primär der Mindestlohnanspruch erfüllt und die Prämie nur durch Anrechnung miterfüllt werden solle. Der Anspruch der Klägerin sei damit auch nicht durch Erfüllung erloschen.

Praxishinweis

Möchte der Arbeitgeber Sonderzahlungen auf den Mindestlohnanspruch anrechnen, obwohl die Lohnzahlung mindestens das gesetzliche Lohnniveau erreicht, muss er eine klarstellende Individualvereinbarung mit dem Arbeitnehmer treffen oder bei der kollektiven Festlegung von Sonderzahlungen auf eine Anrechnung hinweisen.

Redaktion beck-aktuell, 12. Januar 2018.

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