LAG Bremen: Anwesenheitsprämien sind auf den gesetzlichen Mindestlohn anrechenbar

MiLoG § 1 II; EFZG § 4a; ArbZG § 6 V

1. Eine Anwesenheitsprämie, die zusätzlich zum Stundenlohn gezahlt und bei krankheitsbedingten Fehlzeiten gekürzt wird, stellt eine Erfüllung des gesetzlichen Mindestlohnanspruchs dar.

2. Die Zahlung des Mindestlohns und der Anwesenheitsprämie sind funktional gleichwertig. Der Mindestlohn vergütet die Normaltätigkeit des Arbeitnehmers, zu der auch die Anwesenheit des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz zählt.

LAG Bremen, Urteil vom 10.08.2016 - 3 Sa 16/16 (ArbG Bremen-Bremerhaven), BeckRS 2016, 122772

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Stefan Lingemann, Gleiss Lutz, Berlin

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 29/2017 vom 27.07.2017

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Sachverhalt

Die Klägerin ist bei der Beklagten seit 1998 als geringfügig Beschäftigte tätig. Bis Ende 2014 zahlte die Beklagte ihr eine Anwesenheitsprämie. Diese erhielt jeder Mitarbeiter i.H.v. 100 DM monatlich, sofern er jeden Arbeitstag anwesend war. Bei ein bis drei monatlichen Krankheitstagen reduzierte sich die Prämie auf 25 DM, bei mehr als drei Krankheitstagen entfiel sie. Ferner wurde eine zusätzliche Quartalsprämie i.H.v. 100 DM bei ununterbrochener Anwesenheit des Arbeitnehmers ausgezahlt. Seit dem 1.1.2015 zahlte die Beklagte an die Klägerin aufgrund des gesetzlichen Mindestlohns eine Stundenvergütung von 8,50 EUR. Ab Februar 2015 rechnete die Beklagte die Anwesenheitsprämien auf den Mindestlohn an. Einen den Mindestlohn übersteigenden Betrag der Prämien zahlte sie bei entsprechender Anwesenheit der Mitarbeiter aus. 

Die Klägerin verlangt die Zahlung der Anwesenheitsprämien für die Monate Februar 2015 bis September 2015. Die Vorinstanz gab der Klage statt.

Entscheidung

Die Berufung der Beklagten war erfolgreich. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Auszahlung der Anwesenheitsprämien, weil die Anrechnung auf den Mindestlohn zulässig ist.

Der Arbeitgeber erfülle den Anspruch auf den Mindestlohn durch Entgeltzahlungen als Gegenleistung für erbrachte Arbeit. Die Erfüllungswirkung fehle nur dann, wenn die Zahlung unabhängig von tatsächlich geleisteter Arbeit erbracht werde oder die Zahlung einen besonderen gesetzlichen Zweck verfolge.

Bei der Anrechnung von Leistungen auf den gesetzlichen Mindestlohn sei der Zweck des Mindestlohns, einen unmittelbaren Ausgleich für die verrichteten Tätigkeiten des Arbeitnehmers zu gewähren, mit dem Zweck der anzurechnenden Leistung zu vergleichen. Eine Anrechnung könne erfolgen, wenn die zu vergleichenden Leistungen funktional gleichwertig sind. Mindestlohns und Anwesenheitsprämie seien funktional gleichwertig. Der Zweck der Prämie könne nicht losgelöst von der Erbringung der vertraglichen Arbeitsleistung erreicht werden. Die bloße Anwesenheit des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz sei für den Arbeitgeber losgelöst von der Erbringung der Arbeitsleistung nämlich ohne wirtschaftlichen Wert. Die Anwesenheitsprämie verfolge somit keinen von der Erbringung der Arbeitsleistung abtrennbaren eigenständigen Zweck.

Ein besonderer, der Anrechnung entgegenstehender Zweck folge auch nicht aus § 4a EFZG. Zweck dieser Regelung sei es, organisatorische und wirtschaftliche Nachteile für den Arbeitgeber zu vermeiden, die mit der Entgeltzahlung im Krankheitsfall verbunden sind und so gleichzeitig die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen zu ermöglichen. Dieser Zweck könne nur erreicht werden, wenn der Arbeitgeber für seine Vergütungszahlung das wirtschaftliche Äquivalent in Form der vertraglich geschuldeten Leistung durch den Arbeitnehmer erhielte.

Etwas anderes gelte nur, wenn mit der Anwesenheitsprämie ein besonderer, von der Normalleistung abweichender Zweck verfolgt werde, wie etwa die Arbeitsleistung an einem bestimmten Ort, so dass die Prämie nicht das „Ob“, sondern das „Wo“ der Arbeitsleistung honoriert.

Praxishinweis

Nach jüngerer Rechtsprechung des BAG sind auf den Mindestlohn anrechenbar und damit mindestlohnwirksam Treuprämien (BAG, BeckRS 2017, 116742), vorbehaltlos und unwiderruflich monatlich gezahlte Prämien und Zulagen (BAG, FD-ArbR 2017, 387815 m. Anm. Schuster) sowie vorbehaltlos und unwiderruflich monatlich zu 1/12 gezahlte Jahressonderzahlungen (BAG, BeckRS 2016, 74819).

Entscheidend ist die funktionale Gleichwertigkeit mit dem Mindestlohn, die das LAG Bremen jetzt zutreffend auch für Anwesenheitsprämien bejaht hat, da auch diese letztlich Gegenleistung für die Arbeitsleistung sind.

Redaktion beck-aktuell, 28. Juli 2017.