Rechte polnischen Justizministers bei Richter-Abordnung gehen zu weit
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Die in Polen geltende Regelung, nach der der Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, Richter an Strafgerichte höherer Ordnung abordnen und eine solche Abordnung jederzeit beenden kann, ist unionsrechtswidrig. Sie wahrt laut Europäischem Gerichtshof das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit nicht, weil die Abordnung eines Richters als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt werden könnte.

Regionalgericht zweifelt an ordnungsgemäßer Spruchkörper-Zusammensetzung

Der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) fragt sich in sieben bei ihm anhängigen Strafsachen, ob die Zusammensetzung der entsprechenden Spruchkörper, denen ein vom Justizminister gemäß dem Gesetz über die Organisation der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit abgeordneter Richter angehört, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vereinbar ist. Das vorlegende Gericht führt insoweit aus, dass der Justizminister einen Richter nach den polnischen Rechtsvorschriften über die Abordnung von Richtern an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen könne. Die Kriterien, nach denen eine solche Abordnung erfolge, seien nicht offiziell bekannt. Die Entscheidung über die Abordnung unterliege auch keiner gerichtlichen Kontrolle. Im Übrigen könne der Justizminister die Abordnung jederzeit beenden. Für die entsprechende Entscheidung seien keine im Voraus bestimmten Kriterien maßgeblich, und die Entscheidung müsse auch nicht begründet werden. 

EuGH bestätigt Zweifel des Regionalgerichts

Der EuGH (Große Kammer) stellt klar, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und die Richtlinie 2016/343 den genannten polnischen innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen. Die polnischen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, zu denen das Regionalgericht Warschau gehört, seien Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den "vom Unionsrecht erfassten Bereichen" im Sinn von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV. Um zu gewährleisten, dass solche Gerichte in der Lage sind, den nach dieser Bestimmung erforderlichen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, sei es von grundlegender Bedeutung, dass ihre Unabhängigkeit gewahrt ist. Das Erfordernis der Unabhängigkeit verlange unter anderem, dass die Regelung betreffend die Abordnung der Richter die erforderlichen Garantien dafür bietet, dass eine solche Regelung in keinem Fall als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird.

Abordnungsentscheidung nur aufgrund im Vorhinein bekannter Kriterien

Insoweit stellt der EuGH fest, dass es eine Reihe von Umständen gibt, die den Justizminister in die Lage versetzen, die abgeordneten Richter zu beeinflussen, sodass Zweifel an deren Unabhängigkeit entstehen können. Außerdem müsse die Beendigung der Abordnung eines Richters ohne dessen Zustimmung vor den Gerichten nach einem Verfahren angefochten werden können, das die Verteidigungsrechte in vollem Umfang gewährleistet. Ein solche Maßnahme könne für einen Richter nämlich Wirkungen haben, die mit denen einer Disziplinarstrafe vergleichbar sind. Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass der Justizminister gleichzeitig das Amt des Generalstaatsanwalts ausübt, und stellt fest, dass der Justizminister so in einer bestimmten Strafsache über Macht sowohl über den Staatsanwalt der ordentlichen Gerichtsbarkeit als auch über die abgeordneten Richter verfügt. Dies sei geeignet, bei den Rechtsunterworfenen begründete Zweifel an der Unparteilichkeit der abgeordneten Richter aufkommen zu lassen.

Tätigkeit abgeordneter Richter als Disziplinarbeauftragte fragwürdig

Schließlich stellt der EuGH fest, dass Richter, die an Spruchkörper abgeordnet sind, die in den Ausgangsverfahren zu entscheiden haben, gleichzeitig als stellvertretende Disziplinarbeauftragte der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit tätig sind. Der Disziplinarbeauftragte sei damit betraut, die Disziplinarverfahren gegen Richter durchzuführen. Vor dem Hintergrund, dass die stellvertretenden Disziplinarbeauftragten ebenfalls vom Justizminister ernannt werden, sei die gleichzeitige Ausübung des Amts eines abgeordneten Richters und des Amts des stellvertretenden Disziplinarbeauftragten aber geeignet, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfindlichkeit der anderen Mitglieder der betreffenden Spruchkörper für äußere Faktoren zu wecken.

EuGH, Urteil vom 16.11.2021 - C-748/19

Redaktion beck-aktuell, 16. November 2021.