beck-aktuell: Ihr neues Buch* trägt den Titel „Die vulnerable Gesellschaft: Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“. Ist denn die neue Verletzlichkeit, über die man auch ganz offen spricht, nicht erst mal eine schöne Sache, die sogar sehr befreiend sein kann?
Rostalski: Psychologisch kann es nach meiner Einschätzung sehr befreiend sein, sich und anderen persönliche Schwächen einzugestehen. Dies ist allerdings nicht die Perspektive, aus der ich in meinem Buch auf das Thema Vulnerabilität blicke. Aus einem juristischen Blickwinkel stehen Verletzlichkeit und Freiheit in einem Spannungsverhältnis. Wer sich selbst und andere als besonders verletzlich begreift, ist geneigt, mehr Phänomene als relevantes Risiko einzuschätzen, als dies bislang der Fall war, und diesen Risiken besonders abwehrend gegenüber zu stehen.
Das für sich genommen ist nicht neu. Neu ist allerdings, und hierauf nimmt der Titel meines Buchs Bezug, in welchem Ausmaß Verletzlichkeiten von unserer Gesellschaft in den Fokus gerückt und zu einem Leitmotiv für neue Gesetze gemacht werden.
„Viel mehr und viel früher staatliche Schutzmaßnahmen“
Beck-aktuell: Der Staat ist also Ihres Erachtens zunehmend gern bereit, sich schützend vor seine immer vulnerableren Bürgerinnen und Bürger zu stellen? Auch auf Kosten der Freiheit?
Rostalski: Im Grunde ist es eine der Kernaufgaben des Staates, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Es ist allerdings eine Frage gesellschaftlicher Aushandlung, in welchem Umfang der Staat dies tut. Durch eine Analyse jüngerer Gesetzesänderungen komme ich in meinem Buch zu dem Schluss, dass sich hier etwas verschoben hat. In der Tat greifen staatliche Schutzmaßnahmen in vielen Lebensbereichen mittlerweile deutlich früher und umfassender als noch vor einigen Jahren.
Beck-aktuell: Sie sind eine bekennende Kritikerin vieler deutscher Maßnahmen zum Schutz vor dem Corona-Virus. Für Sie ein Paradebeispiel überbordenden Schutzes von vulnerablen Personen auf Kosten der Freiheit?
Rostalski: Der gesellschaftliche Umgang mit der Corona-Pandemie ist paradigmatisch für eine Ausweitung staatlicher Schutzmechanismen in Bezug auf Gesundheitsrisiken. Ein weiteres Beispiel liefert der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Masern-Impfpflicht. Sowohl das Ergebnis der Entscheidung – Rechtmäßigkeit der Auferlegung einer solchen Pflicht – als auch deren Begründung, die explizit auf Vulnerabilitätsgesichtspunkte Bezug nahm, sind Ausdruck der von mir beschriebenen Verschiebung. Obwohl wir das Masern-Virus seit Jahrzehnten kennen und das damit einhergehende Risiko überschaubar hoch ist, ist die Gesellschaft offenbar nicht länger bereit, es zu tolerieren. Allerdings stehen Gesundheitsrisiken nicht im Fokus meiner Untersuchung.
Ausweitungen des Rechts in Reaktion auf gewachsene Vulnerabilitätszuschreibungen zeigen sich in vielen weiteren Bereichen nicht zuletzt des Strafrechts wie etwa der Ehrschutzdelikte, des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung oder der Suizidassistenz. Auch die Debatte, die wir über den Schwangerschaftsabbruch führen, steht im Zeichen der Vulnerabilität der schwangeren Frau. In all diesen Bereichen kommt es zu einer Neuvermessung von Freiheit, indem dem Schutz besonders Verletzlicher immer mehr Rechnung getragen wird.
„Es geht immer noch verletzlicher“
Beck-aktuell: Zeichnet es eine demokratische und rechtsstaatliche Gesellschaft denn nicht gerade aus, dass sie besonders die Schwachen schützt?
Rostalski: Wie bereits gesagt, ist es eine juristische Binsenweisheit, dass es Aufgabe des Staates ist, Sicherheit zu gewährleisten. Allerdings auch Freiheit. Und auf dieses Spannungsverhältnis möchte ich hinweisen und die Frage stellen, in welchem Umfang es sich die Gesellschaft tatsächlich wünscht, dass Freiheit mehr und mehr zugunsten der Sicherheit, die Vulnerablen zugeteilt wird, beschnitten wird.
Dabei ist eines wichtig: Neue Gesetze zum Schutz Vulnerabler führen nicht lediglich zu einer Umverteilung, gewissermaßen vom Starken zum Schwachen. Bei näherer Betrachtung verliert vielmehr gerade auch der Schwache Freiheit. Ich spreche von der Freiheit, Konflikte und Risiken privat einzugehen.
Überall dort, wo der Staat auf den Plan tritt und die private Risikovorsorge oder Konfliktaustragung aufhebt, geht Eigenverantwortung verloren. Diskussionswürdig erscheint mir diese Entwicklung nicht zuletzt, weil das Konzept der Vulnerabilität keine klaren Grenzen aufweist. Es geht, vereinfacht gesprochen, immer noch verletzlicher. Das bedeutet allerdings zugleich, dass auch der Annahme relevanter Risiken keine festen Grenzen gesetzt sind. Was ein Risiko ist, hängt entscheidend von einer Bewertung ab. Und je vulnerabler sich Menschen begreifen, desto eher sind sie geneigt, die Risikozone immer weiter auszuweiten, um mehr und mehr – staatlichen – Schutz zu generieren.
Beck-aktuell: Auf der anderen Seite würden viele Menschen es womöglich als positiv bewerten, sich rundum geschützt zu fühlen. Durchs Strafrecht vielleicht wieder den Mut zu finden, sich in die Öffentlichkeit zu trauen in einer Zeit, in der Hate Speech sie davon abhielt? Sich auch in der Grippe-Saison vor die Tür zu trauen? Inwiefern ist die Entwicklung aus Ihrer Sicht eine Gefahr?
Rostalski: Das Risiko ist, dass sie nicht offen diskutiert wird. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir uns als Gesellschaft klar darüber sind, in welchem Umfang Vulnerabilitäten unser Recht bereits heute prägen und wie sehr dies die Landkarte individueller Freiheit verändert hat. Wenn sich solche Entwicklungen vollziehen, halte ich es in einer Demokratie für essenziell, dass ihnen ein umfassender Aushandlungsprozess vorausgeht, der gerade diese Facette einbezieht.
Ob es daher richtig oder falsch ist, im Bereich der Hassrede oder von Gesundheitsrisiken regulatorisch immer weiter aufzurüsten, ist nicht meine Entscheidung. Wir müssen dies als Gesellschaft miteinander beantworten – allerdings unter Einbeziehung des von mir aufgezeigten Zusammenhangs.
„Uns als Gesellschaft mehr Eigenverantwortung zutrauen“
Beck-aktuell: Sie bringen vor allem Beispiele aus dem Strafrecht, bekanntlich die ultima ratio, um erwünschtes oder unerwünschtes Verhalten zu steuern. Sehen Sie eine solche Entwicklung auch bei anderen rechtlichen Vorgaben auf niedrigerem Level, zum Beispiel Geboten zum Klimaschutz?
Rostalski: Ich möchte noch einmal betonen, dass die Darlegung des Spannungsverhältnisses zwischen Vulnerabilität und Freiheit nicht einhergeht mit einer pauschalen Kritik an den Entwicklungen, die ich beschreibe. Nach meiner Auffassung müssen wir im jeweiligen Einzelfall entscheiden, ob eine gesetzliche Neuerung von Vorteil oder von Nachteil ist. Dies allerdings unter Einbeziehung des großen Bildes einer allgemeinen Verschiebung hin zu mehr Schutz von Vulnerabilitäten.
Um ein Beispiel zu nennen: Die Änderungen des § 177 StGB und die Einführung der „Nein heißt Nein“-Regel halte ich für vollkommen richtig. Kritischer bin ich in der Tat in anderen Bereichen – etwa der Hassrede. Ich denke, dass wir uns hier als Gesellschaft durchaus mitunter etwas mehr Eigenverantwortung zutrauen sollten.
Der Klimaschutz wirft seinerseits viele schwierige Detailfragen auf, die auf den unterschiedlichen Ebenen der Verhältnismäßigkeitsprüfung beantwortet werden müssen. Insoweit halte ich es für verkürzt, die – unzweifelhaft vorliegende – menschliche Vulnerabilität im Zusammenhang mit dem Klimawandel voranzustellen, um allein auf dieser Basis weitreichende Eingriffe in die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu rechtfertigen. An einer Verhältnismäßigkeitsprüfung kommen wir selbst bei noch so viel Vulnerabilität verfassungsrechtlich nicht vorbei.
„Vulnerabel im Diskurs sind nicht nur die sogenannten Woken“
Beck-aktuell: Sie wollen mit Ihrem Buch nach eigenen Angaben einladen zum Gespräch. Doch bedienen Sie nicht schon mit dem Titel das Narrativ der woken Minderheit, die für ihre Mitglieder immer mehr Schutz verlangt, auch wenn sie manchmal vielleicht gar nicht genau weiß, wovor oder wogegen, gegen die Freiheit womöglich einer Mehrheit, die – erlauben Sie mir die Polemik - Fleisch essen, schnell Auto fahren und auch über den Nachbarn mit Migrationshintergrund schimpfen können möchte? Kann das wirklich zu mehr Diskurs führen?
Rostalski: Den Titel des Buchs scheinen Sie missverstanden zu haben. Denn in der Tat stelle ich im Buch heraus, dass Vulnerabilität eine Eigenschaft ist, die die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Das betrifft ganz verschiedene Lebensbereiche, von denen ich bereits einige aufgezählt habe. Oder möchten Sie behaupten, dass der sehr risikoaverse Umgang mit dem Corona-Virus Ausdruck einer Dominanz woker Minderheiten war? Eine solche Interpretation hielte ich für in Gänze verfehlt, sie deckt sich auch nicht mit der Studienlage, die klar belegt, wie weitreichend die Zustimmung zur offiziellen Corona-Politik innerhalb der Bevölkerung war.
Auch das Phänomen einer besonderen Verletzlichkeit im Diskurs, das ich „Diskursvulnerabilität“ nenne, zeigt sich in allen Winkeln der Gesellschaft. Ich finde gerade nicht, dass man es auf die sogenannten „Woken“ begrenzen kann. Diskursvulnerabilität entsteht nach meinem Verständnis entweder daraus, dass der Gesprächsgegenstand eine gesellschaftlich erfahrene Diskriminierung perpetuiert, oder daraus, dass die eigene moralische Position in der einen oder anderen gesellschaftlichen Frage – ob nun Ukraine-Krieg, Corona-Pandemie oder Klimaschutzdebatte – so stark aufgeladen wird, dass sie geradezu zu einem Persönlichkeitsmerkmal erhoben wird.
Wird eine Person, die sich so stark mit der eigenen Meinung identifiziert, dann mit Sachargumenten konfrontiert, fühlt sie sich schnell persönlich angegriffen. Dann ist man unmittelbar nicht mehr auf einer Sachebene, sondern verfällt auf die Gefühlsebene. Dieses Phänomen ist ein gesamtgesellschaftliches, weshalb ich es auf keinen Fall einer bestimmten Gruppe zuschreiben möchte.
Deshalb denke ich in der Tat, durch mein Buch zu mehr Diskurs anregen zu können. Denn der Hinweis darauf, nach welchen Regeln ein Diskurs zu verlaufen hat, dass insbesondere Beleidigungen ad personam darin nichts zu suchen haben, sondern in der Sache diskutiert werden muss, erscheint mir sehr wichtig. Ebenso wichtig ist es aus meiner Sicht, daran zu erinnern, und auch dies tue ich in meinem Buch, dass der offene Diskurs das Herzstück einer freiheitlichen Demokratie ist. Wir sind auf offene Aushandlungsprozesse angewiesen, um die großen Herausforderungen anzugehen, die sich unserer Gesellschaft heute stellen. Diese Aushandlungsprozesse sollten wir uns nicht durch Empfindlichkeiten im Diskurs verstellen lassen.
„Wenn der offene Diskurs gefährdet ist, ist auch die Demokratie gefährdet“
Beck-aktuell: Sind Sie denn der Auffassung, dass man aktuell hierzulande nicht alles sagen darf?
Rostalski: Nach der jährlich erhobenen Allensbach-Umfrage gaben im Jahr 2023 48% der Befragten an, es sei bei der Äußerung der eigenen politischen Meinung „besser, vorsichtig zu sein“. Ich halte diesen Wert, der so hoch ist wie noch nie seit Beginn der Umfrage im Jahr 1953, für alarmierend. Das Problem scheint für mich auch weniger darin zu liegen, Dinge nicht sagen zu können, sondern in den Reaktionen, die auf gewisse Äußerungen mitunter folgen.
Viele Menschen in Deutschland fürchten soziale Sanktionen auf offene Meinungskundgaben. Man kann dies als Einbildung oder Überempfindlichkeit abtun. Mir erscheint es allerdings wichtig, entsprechende Wahrnehmungen ernst zu nehmen und sich als Gesellschaft zu fragen, wie dem entgegengewirkt werden kann. Denn erneut: Wenn der offene Diskurs gefährdet ist, ist es zugleich unsere Demokratie. Und das können wir nicht ernstlich wollen.
Beck-aktuell: Frau Professorin Rostalski, vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Frauke Rostalski ist Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln. Sie ist Mitglied des Deutschen Ethikrats, Verfasserin zahlreicher wissenschaftlicher Werke und Autorin für mehrere Publikumsmedien.
Das Interview führte Pia Lorenz.
*Ihr Werk „Die vulnerable Gesellschaft: Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“ erscheint bei C.H. Beck. Es ist ab sofort bestellbar hier.