Die Wahlvorsteher eines Luftfrachtkonzerns mit mehr als 3.500 Beschäftigten hatten es nur gut gemeint: In der Corona-Pandemie ließen sie jedem Wahlberechtigten die Unterlagen für die Abstimmung über ihre Vertreter im Aufsichtsrat nach Hause schicken. Schließlich wisse man vorher nicht, wer in der Abstimmungswoche im Mai 2021 krank sein werde, Angst vor Ansteckung haben könnte oder sich in Heim- oder Kurzarbeit bzw. einem auswärtigen Einsatz befinde.
Der zusätzliche Clou: Wer die Unterlagen ausgefüllt und zurückgeschickt hatte, durfte es sich noch anders überlegen und trotzdem vor Ort votieren – diese Stimmabgabe sollte dann Vorrang haben. Dagegen klagten drei wahlberechtigte Arbeitnehmer sowie eine Gewerkschaft, deren von ihr benannter Kandidat durchgefallen war. Das BAG erklärte in einer jetzt veröffentlichten Entscheidung die ganze Wahl für unwirksam (Beschluss vom 24.04.2024 – 7 ABR 22/23).
Die obersten Arbeitsrichter und -richterinnen sahen die Vorgehensweise von keiner der Möglichkeiten gedeckt, die § 49 der Dritten Wahlordnung zum Mitbestimmungsgesetz (3. WOMitbestG) zulässt – ebenso wenig wie zuvor schon das ArbG Frankfurt und das LAG Hessen. Diese Vorschrift fußt auf § 22 Mitbestimmungsgesetz (MitbestG), das die Beteiligung der Mitarbeiter in Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern im Kontrollgremium regelt und auch den Gewerkschaften eigene Vorschlagsrechte sichert.
Der Normalfall ist nach alldem die sogenannte Präsenzwahl. Nur wenn ein Wahlberechtigter von sich aus wegen Abwesenheit im Betrieb die Übersendung von Briefwahlunterlagen verlangt, hat er nach § 49 I 1 der 3. WOMitbestG einen Anspruch hierauf, so das BAG. Dies hätten aber nicht alle jene 85% der Wähler verlangt, die auf dem Postweg abgestimmt hätten. "Der Betriebswahlvorstand hat die Unterlagen vielmehr unaufgefordert an alle Wahlberechtigte (...) übersandt."
Keine Ausnahme wegen Corona
Aber die Voraussetzungen einer schriftlichen Stimmabgabe nach § 49 II der 3. WOMitbestG lagen dem Richterspruch zufolge ebenfalls nicht vor. Nach dieser Vorschrift erhalten jene Wahlberechtigte ohne eigenes Zutun die Wahlzettel und Umschläge zugeschickt, von denen der Wahlvorstand weiß, "dass sie im Zeitpunkt der Wahl nach der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden (insbesondere im Außendienst, mit Telearbeit und in Heimarbeit Beschäftigte)", wie es in der Entscheidung heißt. Doch so sei es hier nicht gewesen: "Der Betriebswahlvorstand wusste lediglich nicht, welche Wahlberechtigten sich am Wahltag bzw. an den Wahltagen in Kurzarbeit oder im Homeoffice befinden." Diesen zwingenden Vorgaben der Wahlordnung habe auch die Pandemielage nicht entgegengestanden. Und davon könne ein Wahlvorstand trotz seiner Richtlinienkompetenz, die ihm eine gewisse Spannbreite verschaffe, nicht abweichen.
Schließlich verschlossen die Erfurter Richter auch die dritte Hintertür. Nach § 49 III der 3. WOMitbestG könne der Betriebswahlvorstand zwar für Betriebsteile und Kleinstbetriebe, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind, eine schriftliche Stimmabgabe beschließen; ebenso für Betriebe, in denen die Mehrheit der Wahlberechtigten zur schriftlichen Stimmabgabe nach Abs. 2 berechtigt ist und die verbleibende Minderheit nicht mehr als insgesamt 25 Wahlberechtigte ausmacht. Doch das war hier nicht der Fall, so der höchstrichterliche Beschluss. Vielmehr habe der Wahlvorstand die schriftliche Stimmabgabe neben der persönlichen für den gesamten Wahlbetrieb als Option eröffnet.
Überdies hegt das BAG datenschutzrechtliche Bedenken gegen das gewählte Prozedere, weil dem Wahlgremium hierfür vom Arbeitgeber sämtliche Privatadressen übermittelt werden mussten. Was Letzterem zumal wegen der Freiumschläge zusätzliche Kosten beschert habe. Vergrößert werde bei einer Briefwahl ferner die Gefahr, dass gegen den Grundsatz der geheimen Wahl verstoßen werde, weil die Stimmberechtigten ihr Kreuz unbeobachtet machen und in den Wahlumschlag stecken sollen. Das erhöhte aus Sicht des Gerichts das Risiko einer Wahlmanipulation. Angesichts dessen sei nicht auszuschließen, dass ohne den Rechtsverstoß wesentlich weniger Stimmen abgegeben worden wären und somit das Ergebnis anders ausgefallen wäre.