Am 4. November 1950 wurde die EMRK von damals 12 Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, in Rom unterzeichnet. Mit ihr wurde erstmals ein völkerrechtlich bindender Vertrag geschaffen, der die Frage des Schutzes der Grund- und Menschenrechte umfassend adressierte.
Ob sich die Staaten heute noch auf einen ähnlich prägnanten Text einigen könnten, darf bezweifelt werden. Ähnlich wie in dem – ein Jahr zuvor verkündeten – Grundgesetz steht die EMRK ganz im Zeichen der Freiheitsrechte: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit und viele mehr. Manche Konventionsgarantien lesen sich fast wörtlich wie die Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes. Und auch wenn die Menschenwürde als solche in der EMRK nicht explizit erwähnt wird, ist doch heute allgemein anerkannt, dass die Idee der Menschenwürde auch der EMRK und ihren Garantien zugrunde liegt.
Von der Vision zur europäischen Gerichtsbarkeit
Bereits die vertragliche Festschreibung der Menschenrechte war für damalige Verhältnisse ein revolutionärer Schritt. Die EMRK erwies sich aber auch darüber hinaus als visionär, indem sie die Überwachung der Menschenrechte einem internationalen Gericht, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg, übertrug. Die Stellung des Gerichtshofs in der Ursprungsfassung der EMRK war dabei noch bewusst zurückhaltend ausgestaltet: Sowohl die Gerichtsbarkeit des EGMR als auch das Recht auf Individualbeschwerde waren fakultativ und bedurften seitens der betreffenden Staaten einer zusätzlichen Erklärung.
Trotzdem trug die EMRK bereits den Keim zur Fortentwicklung in sich. Immer mehr Staaten akzeptierten Gerichtsbarkeit und Individualbeschwerde, sodass mit der am 1. November 1998 in Kraft getretenen Reform des Konventionssystems dieser Zustand in der EMRK fixiert werden konnte. Zugleich wandelte sich der EGMR von einem mit Richterinnen und Richtern im Nebenamt besetzten zu einem permanent tagenden Gericht mit hauptamtlichen Richterinnen und Richtern.
Flexibel und wirksam: Die EMRK als lebendiges Recht
So wenig wie allein der Blick ins Grundgesetz Auskunft über den in der Rechtspraxis gelebten Umfang der Grundrechte zu geben vermag, so wenig erklärt der bloße Rückgriff auf den Wortlaut der EMRK deren tatsächlichen Gehalt. Der EGMR hat die ihm anvertraute Aufgabe, die Auslegung und Anwendung der EMRK und ihrer Protokolle zu überwachen, kraftvoll genutzt. Zentrale Weichenstellung hierfür waren zwei grundlegende Argumentationsfiguren: Die Garantien der EMRK dürften nicht nur "theoretical and illusory", sondern müssten "practical and effective" sein. Zudem: "The Convention is a living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions".
Diese sogenannte "living instrument"-Doktrin diente dem EGMR dazu, die EMRK den sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Die hierzu ergangenen Urteile sind legendär und werden hier nicht abschließend erwähnt: Im Jahr 1978 sah der EGMR in der Prügelstrafe an Schülerinnen und Schülern, damals noch gängige Praxis auf der Isle of Man, einen Verstoß gegen das Verbot erniedrigender Strafe (Fall Tyrer). Im Jahr 1981 erkannte er in der Strafbarkeit einvernehmlich vorgenommener homosexueller Handlungen in Nordirland einen Verstoß gegen das Recht auf Privatleben (Fall Dudgeon). Im Jahr 1979 befand er die rechtliche Ungleichbehandlung von ehelich und nichtehelich geborenen Kindern in Belgien für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot (Fall Marckx).
Doch nicht immer war das Ergebnis der Konventionswidrigkeit vorgegeben. So akzeptierte der EGMR im Jahr 1976 noch das Verbot von als obszön geltenden Teilen des Little Red Schoolbook (es ging um Fragen der Sexualmoral) und verneinte demgemäß einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit (Fall Handyside). Hiermit begründete der Gerichtshof zugleich seine sogenannte "margin of appreciation"-Doktrin, nach der den Staaten in sensiblen Fragen ein Beurteilungsspielraum zukommt. Dieser Fall erfuhr Jahrzehnte später eine Neuauflage, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Im Jahr 2023 sah die Große Kammer des EGMR das zeitweise Verbot eines litauischen Märchenbuchs wegen Schilderung gleichgeschlechtlicher Beziehungen als mit der Konvention unvereinbar an (Fall Macatė). Das Urteil erging insoweit einstimmig.
Werden der EGMR und das BVerfG noch Freunde?
Lange Zeit war in der deutschen Rechtsordnung die Meinung vorherrschend, Grundgesetz und BVerfG gewährten ohnehin das Maximum an Grundrechtsschutz. Weitergehende Anstöße von außen seien daher letztlich nicht erforderlich; die Rolle des EGMR beschränke sich allenfalls auf die Korrektur seltener Pannenfälle. Vor diesem Hintergrund dürfte am ehesten die Reaktion des BVerfG auf die Verurteilung der Bundesrepublik im Fall Karlheinz Schmidt (Konventionswidrigkeit der Feuerwehrabgabe für lediglich männliche Gemeindeeinwohner) zu verstehen sein: Das BVerfG erwähnte das EGMR-Urteil zwar im Tatbestand, ging hierauf in der Urteilsbegründung jedoch mit keinem Wort ein. Stattdessen stellte das Gericht die Verfassungswidrigkeit allein unter Rückgriff auf die Bestimmungen des Grundgesetzes fest.
Über diesen Rechtszustand geht die Rechtsprechung mittlerweile deutlich hinaus. Grundlegend hierfür war der Görgülü-Beschluss des BVerfG. Darin begründete das deutsche Verfassungsgericht die Verpflichtung aller deutschen Gerichte, die EMRK samt der dazu ergangenen Rechtsprechung des EGMR zu "berücksichtigen", und zwar auch und gerade bei der Auslegung der Garantien des Grundgesetzes selbst. Auf diese Weise öffnete sich das BVerfG – ganz im Sinne des Gedankens der "Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes" – den Einflüssen von außen. Dass es damit durchaus auch Ernst macht, zeigte sich an Fällen wie der Caroline-Rechtsprechung (Abwägung von Persönlichkeitsrecht Prominenter und Pressefreiheit) oder der Sicherungsverwahrung, bei der die EGMR-Rechtsprechung (Fall M.) das BVerfG zu einer Abkehr von seiner zuvor eingeschlagenen Rechtsprechungslinie veranlasste. Dementsprechend gehört das Screening der einschlägigen EGMR-Rechtsprechung heute zum Standardrepertoire in Karlsruhe.
Dass das BVerfG damit im Ergebnis gut fährt, zeigte sich erst unlängst im Fall des Streikverbots für Beamtinnen und Beamte: So gelangte das Gericht in einer umfassenden Analyse der bisher ergangenen EGMR-Rechtsprechung (entgegen anders lautender Stimmen in Rechtsprechung und Literatur) zu der Einschätzung, dass ein generelles Streikverbot für Beamtinnen und Beamte durchaus mit der EMRK vereinbar sein könne. Letztlich honorierte der EGMR die ausführliche Auseinandersetzung mit seinem eigenen case-law, indem er unter Berufung auf die "margin of appreciation" die deutsche Regelung unbeanstandet ließ (Fall Humpert). Insgesamt dürfte das Verhältnis der beiden Gerichte weitgehend geklärt sein, auch wenn das BVerfG im Görgülü-Beschluss meinte, auf das "letzte Wort" der deutschen Verfassung nicht verzichten zu können.
Die europäische Dimension der EMRK
Bei einer Würdigung der Bedeutung der EMRK darf die europäische Dimension nicht übersehen werden. So mag es heute nur noch rechtshistorisch von Interesse sein, dass das frühere Gemeinschaftsrecht keinen eigenen Grundrechtekatalog kannte. Der EuGH schloss die dadurch entstandene Rechtsschutzlücke maßgeblich durch den Rückgriff auf die EMRK. Dieser Zustand ist mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und dem Verbindlichwerden der Grundrechtecharta der Union überwunden. Auch der Schutzstandard unter der Charta ist jedoch wiederum an die parallelen EMRK-Garantien, einschließlich der dazu ergangenen EGMR-Rechtsprechung, gebunden.
Wie zentral die Bedeutung der EMRK auch und gerade für das Unionsrecht ist, zeigt sich nicht zuletzt am Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: So hängt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, der die Grundlage beispielsweise des Europäischen Haftbefehls bildet, ganz maßgeblich von der Existenz eines einheitlichen menschenrechtlichen Grundverständnisses ab. Gewiss wird dieses heute auch und sogar maßgeblich durch die Grundrechtecharta geprägt. Doch ist die Unionsrechtsordnung derart eng mit der EMRK verflochten, dass die EGMR-Rechtsprechung den unionsrechtlichen Grundrechtsstandard jedenfalls mitprägt.
Ein Grund zum Feiern, oder etwa nicht?
Nach alledem besteht heute Anlass, positiv auf die vergangenen 75 Jahre zurückzublicken. Allerdings führt die aktuelle politische Gesamtlage dazu, dass in Straßburg nur in sehr verhaltenen Tönen gefeiert wird. Im Mai 2025 veröffentlichte eine Gruppe von neun Regierungen, angeführt von Dänemark und Italien, ein an die Adresse des EGMR gerichtetes Schreiben, in welchem sie dessen Rechtsprechung in Migrationsfragen kritisierte. Dem Vernehmen nach ist die Gruppe der EGMR-kritischen Staaten mittlerweile auf über 20 gestiegen. Parallel dazu fordert im Vereinigten Königreich (welches doch zu den Gründungsstaaten der EMRK gehörte!) nicht mehr nur die UKIP unter Nigel Farage den Ausstieg aus der EMRK. Selbst in Tory-Kreisen wird über derartige Szenarien mittlerweile ernsthaft nachgedacht. Ausgang ungewiss.
Deshalb ist das 75-jährige Jubiläum der EMRK zugleich ein Anlass, sich den Wert des EGMR vor Augen zu führen. Im Jahr 1950 ist die Auslegung der EMRK bewusst unabhängigen Richterinnen und Richtern anvertraut worden. Unabhängigkeit bedeutet dabei nicht, dass der EGMR vor jeglicher Kritik gefeit wäre. Doch wer die Institution im politischen Kalkül beschädigt, legt die Axt an die europäische Rechtsstaatsarchitektur. 1950 war die allgemeine Erwartung, der EGMR werde nur in seltenen Fällen als eine "alarm bell" fungieren. Wann, wenn nicht jetzt, trifft dieses Bild zu?
Prof. Dr. Marten Breuer ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit internationaler Ausrichtung an der Universität Konstanz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört unter anderem der Internationale Menschenrechtsschutz, insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention.


