NJW-Editorial
Zwei Klappen für eine Fliege
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Braucht es spezielle Haftungsregeln für Digitalprodukte? Das Deliktsrecht verfügt mit dem Element der Sorgfaltspflichten über ein technologieneutrales, hoch flexibles Steuerungsinstrument. Doch die EU will mit Blick auf KI nicht nur auf die Gerichte setzen. Ende September hat die Europäische Kommission zwei Richtlinien-Entwürfe vorgelegt, nämlich eine umfassende Überarbeitung der aus dem Jahr 1985 stammenden Produkthaftungs-Richtlinie sowie eine weitere, völlig neue Richtlinie „über KI-Haftung“. Beide sind im Zusammenhang zu sehen.

9. Nov 2022

Aus haftungsrechtlicher Sicht besteht das mit digitalen autonomen Systemen verbundene Problem darin, dass die Kontrolle des Nutzers über das Produkt schwindet und sich auf den Hersteller verlagert. Verkehrsunfälle mit herkömmlichen Kraftfahrzeugen werden zu über 90 % durch den Fahrer verursacht, doch bei vollautonomen Fahrzeugen ist dieser nur noch Passagier. Wie sich das Fahrzeug verhält, das bestimmt der Hersteller. Deshalb sollte er stärker in die Pflicht genommen werden. Das Europäische Parlament marschierte mit seinem Entwurf aus dem Jahr 2020 leider in die entgegengesetzte Richtung und wollte die Haftung des Betreibers ausbauen. Damit ist es nun glücklicherweise vorbei. Mit der novellierten Richtlinie soll die Produkthaftung über bewegliche Sachen hinaus auf Computerprogramme erstreckt, der Fehlerbegriff auf nach Inverkehrbringen aufgespielte Updates ausgedehnt, die Beweislast des Geschädigten mit Fehler- und weitreichenden Kausalitätsvermutungen erleichtert und die Haftungshöchstgrenze von 70 Mio. ECU (85 Mio. Euro) gestrichen werden. Über diese Vorschläge kann man streiten, zumal sie nicht auf Digitalprodukte beschränkt sind. Mit der Reform wird also die Produkthaftung insgesamt verschärft. Aber die Richtung stimmt!

Obwohl die Digitalisierung keine rechtspolitische Fliege ist, stellt sich doch die Frage, wofür es noch einer zusätzlichen Richtlinie über KI-Haftung bedarf. Immerhin nimmt auch dieser Entwurf ganz überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, den Hersteller ins Visier. In die nationalen Deliktsrechte sollen zwei Regeln eingepflanzt werden, nach denen die Sorgfaltspflichtverletzung und deren Kausalität für den Schaden vermutet werden. Die eigentliche Haftungsgrundlage muss das nationale Recht bereitstellen. Die Einpassung der Vermutungen allein in das deutsche Haftungsrecht ist eine komplexe dogmatische Aufgabe. Solange sie nicht erledigt ist, lassen sich Anwendungs- und Schutzbereich der Richtlinie über die KI-Haftung kaum beurteilen. Und darüber schwebt die berechtigte Frage, ob man sie überhaupt braucht.

Wie auch immer die künftigen Regelungen im Detail aussehen werden, die EU ist auf dem richtigen Weg. Wer eine Gefahrenquelle kontrolliert, der zieht haftungsrechtliche Verantwortung auf sich. Und wenn sich die Kontrollmöglichkeiten verschieben, dann muss die Haftung folgen.


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Prof. Dr. Gerhard Wagner, LL.M. (Chicago), ist Lehrstuhlinhaber an der Humboldt-Universität zu Berlin.