Urteilsanalyse
Zustellung an den Betroffenen trotz zur Empfangnahme ermächtigten Verteidigers
Urteilsanalyse
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Gemäß § 145a Abs. 1 StPO besteht - so das Oberlandesgericht Brandenburg - eine Wahlmöglichkeit zwischen einer Zustellung an den Verteidiger, den Beschuldigten oder an beide.

11. Okt 2022

Anmerkung von Rechtsanwalt David Püschel, Ignor & Partner GbR, Frankfurt a. M.

Aus beck-fachdienst Strafrecht 20/2022 vom 22.09.2022

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Sachverhalt

Die Zentrale Bußgeldstelle setzte mit Bußgeldbescheid vom 10.2.2021 gegen die Betroffene (B) wegen Verstoßes gegen die Wartepflicht an einem Bahnübergang als Führerin eines Kraftfahrzeuges ein Bußgeld in Höhe von 240,00 EUR fest. Mit Schriftsatz vom 24.2.2021 legte Rechtsanwalt (R) unter Vorlage einer Vollmachtsurkunde vom selben Tag Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Das AG verwarf mit Urteil vom 4.4.2022 den Einspruch der B gegen den Bußgeldbescheid, da B trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt zur Hauptverhandlung nicht erschienen war; auch der geladene R war zum Hauptverhandlungstermin nicht erschienen. Mit Verfügung vom 4.4.2022 verfügte die Bußgeldrichterin die förmliche Zustellung des Verwerfungsurteils an B, nicht hingegen an R. Das Verwerfungsurteil wurde B am 8.4.2022 zugestellt. Mit bei Gericht am 14.4.2022 eingegangenen Schreiben legte B gegen das Verwerfungsurteil vom 4.4.2022 „Beschwerde“ ein. Mit Beschluss vom 23.5.2022 verwarf das AG das gemäß § 300 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG als Rechtsbeschwerde ausgelegt Rechtsmittel gemäß § 346 Abs. 1 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG als unzulässig, da es nicht innerhalb der Monatsfrist des § 345 Abs. 1 und 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG in einer von einem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle mit Anträgen versehen und begründet worden sei. Gegen diesen dem R am 15.6.2022 förmlich und der B formlos zugestellten Beschluss legte B mit am 21.6.2022 eingegangenen Schreiben „erneute Beschwerde“ ein.

Entscheidung

Die von der B erhobene „erneute Beschwerde“ sei als „Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ als der einzig statthafte Rechtsbehelf auszulegen.

Dieser sei form- und fristgerecht eingelegt worden. In der Sache habe er jedoch keinen Erfolg.

Die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde betrage bei einem Abwesenheitsurteil gemäß § 341 Abs. 1 und 2 StPO iVm. 79 Abs. 3 OWiG eine Woche ab Zustellung der Entscheidung. Dem schließe sich die Begründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG an, die einen Monat betrage. Zwar sie die Einlegung der Rechtsbeschwerde durch die B am 14.4.2022, fristgerecht erfolgt, jedoch sei eine Begründung der Rechtsbeschwerde weder frist- noch formgerecht bei Gericht eingegangen. Das am 21.6.2022 bei Gericht eingegangene, selbst verfasste Schreiben der B sei nicht innerhalb der Begründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG und auch nicht in der Form des § 345 Abs. 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG eingelegt worden.

Die förmliche Zustellung des Verwerfungsurteils an die B sei auch wirksam. Zwar habe R bereits im Verwaltungsverfahren eine Vollmachtsurkunde zu den Akten gereicht, so dass er gemäß § 145a Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 OWiG als ermächtigt gegolten habe, Zustellungen im Empfang zu nehmen. Von daher sei das Bußgeldgericht gemäß § 145a Abs. 3 S. 1 StPO, Nr. 154 Abs. 1 RiStBV gehalten gewesen, das Urteil R zuzustellen und B davon formlos zu unterrichten. § 145a Abs. 1 StPO sei jedoch eine bloße Ordnungsvorschrift und begründe keine Rechtspflicht, Zustellungen für B an R zu bewirken. Daher seien auch an B vorgenommene Zustellungen wirksam und setzen Rechtsmittelfristen in Gang.

Es bestehe auch keine Veranlassung, B von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zwar könne die unterlassene Zustellung der Entscheidung oder das Unterlassen einer entsprechenden Benachrichtigung des Verteidigers von der Zustellung an einen Betroffenen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründen. Jedoch hatte R spätestens mit der Zustellung des Beschlusses vom 23.5.2022, die am 15.6.2022 erfolgt sei, von dem Verwerfungsurteil vom 4.4.2022 Kenntnis, was wiederum die Wiedereinsetzungsfrist des § 45 Abs. 1 StPO ausgelöst habe, innerhalb der die versäumte Handlung in der gesetzlichen Form nachzuholen gewesen wäre, was nicht geschehen ist.

Praxishinweis

Nach h.M. besteht gemäß § 145a Abs. 1 StPO eine Wahlmöglichkeit zwischen einer Zustellung an den Verteidiger, den Beschuldigten oder an beide (MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, § 145a Rn. 7). Es ist daher eine präzise Prüfung und ggf. sofortiges Reagieren in Gestalt eines (begründeten) Wiedereinsetzungsantrages und der Nachholung der versäumten Handlung geboten, wenn erkennbar wird, dass „am Verteidiger vorbei“ zugestellt wurde.


OLG Brandenburg, Beschluss vom 12.09.2022 - 1 OLG 53 Ss-OWi 399/22 (AG Brandenburg), BeckRS 2022, 24631