Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Christian Rathgeber, Mag. rer. publ., Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz
Aus beck-fachdienst Strafrecht 03/2021 vom 04.02.2021
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Sachverhalt
Die Stadt (S) verhängte gegen die Betroffene (B) ein Bußgeld i.H.v. 120 EUR für eine Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften. Gegen diesen Bescheid legte B Einspruch ein und beantragte, ihr die Rohmessdaten zum hiesigen Messvorgang zzgl. der Messreihe digital und entschlüsselungsfrei zu übermitteln. Hierauf übersandte die S die den in Rede stehenden Vorgang betreffenden Rohmessdaten. Im Einspruchsschriftsatz beantragte B sodann, die Überlassung der Messreihe (betreffend andere Fahrzeuge und Kennzeichen anonymisiert) vom vorgeworfenen Tattag. Diesem Antrag kam die S unter Hinweis darauf, dass die Herausgabe der gesamten Messreihe nur auf richterliche Anordnung erfolge, nicht nach und leitete das Verfahren zur Entscheidung über den Einspruch an die StA Bielefeld weiter.
Das AG Bielefeld teilte mit, dass über etwaig gestellte (Beweis-)Anträge erst im Hauptverhandlungstermin entschieden werde. Hiergegen legte B Beschwerde ein und verwies erneut darauf, dass ihrer Ansicht nach der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit eine Übersendung der geforderten Daten erfordere. Das AG Bielefeld half dieser Beschwerde nicht ab, sondern übersandte das Verfahren an die StA Bielefeld zur Vorlage dem Beschwerdegericht zur weiteren Entscheidung.
Entscheidung
Das Gericht hält die Beschwerde der B für zulässig und begründet und weist die Bußgeldstelle der S an, dem Verteidiger der B die vollständige Messreihe vom Tattag auf einen von der Verteidigung zur Verfügung gestellten Datenträger zu kopieren und an diese zu übersenden.
Es handele sich bei dem Antrag der B nicht um einen erst in der Hauptverhandlung vor der Urteilsverkündung zu bescheidenden Beweisantrag. Sie begehre vielmehr Informationen, die sie mit Hilfe sachverständiger Begutachtung in die Lage versetzen sollen, sich überhaupt mit einem Beweisantrag gegen die Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung wenden zu können. Sei, wie vorliegend, nämlich ein standardisiertes Messverfahren zum Einsatz gekommen, könne der Betroffene Einwendungen und Zweifel allgemeiner Art nicht zum Gegenstand eines Beweisantrages machen. Vielmehr habe er nur die Möglichkeit, bei der Bußgeldbehörde die Messunterlagen zu besorgen, sie durch einen privat zu beauftragenden Sachverständigen auswerten zu lassen und auf der Grundlage dann einzelfallbezogener Einwände Beweis- oder sonstige gegen die Richtigkeit der Messung gerichtete Anträge zu stellen. Bei einer Bescheidung des Begehrens der B erst im Rahmen der Hauptverhandlung drohe somit ein endgültiger Rechtsverlust.
Die Beschwerde habe auch in der Sache Erfolg. Nach Ansicht der Kammer werde die Verteidigung eines Betroffenen jedenfalls dann unzulässig beschränkt (§§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG iVm § 338 Nr. 8 StPO), wenn der Betroffene schon bei der Verwaltungsbehörde und sodann vor dem Amtsgericht einen Antrag auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen weiteren amtlichen Messunterlagen erfolglos gestellt habe. Denn der Betroffene habe ein Recht auf Einsicht in die – nicht bei den Akten befindliche – digitale, vollständige Messreihe vom Tattag. Ein solcher Anspruch ergebe sich – auch beim standardisierten Messverfahren – aus dem Gebot des fairen Verfahrens. Dieses folge aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) iVm dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK. Aus dem Gebot ergebe sich, dass ein Beschuldigter oder Betroffener nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein dürfe, sondern ihm die Möglichkeit gegeben werden müsse, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Das Recht auf ein faires Verfahren enthalte indessen keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote. Es zu konkretisieren, sei zunächst Aufgabe des Gesetzgebers und sodann, in den vom Gesetz gezogenen Grenzen, Pflicht der zuständigen Gerichte bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung. Erst wenn sich unter Berücksichtigung aller Umstände und nicht zuletzt der im Rechtsstaatsprinzip des GG selbst angelegten Gegenläufigkeiten eindeutig ergebe, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt seien, könnten aus dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit selbst konkrete Folgerungen für die Ausgestaltung des Verfahrens gezogen werden. Auch aus dem Gebot des fairen Verfahrens könne sich nach h.M., der sich die Kammer nach eigener Abwägung anschließe, ein Recht auf Einsicht in Akten, Daten o. a. ergeben, welches über das Recht auf Akteneinsicht aus § 147 StPO hinausgehe.
Bezogen auf das Bußgeldverfahren werde auf dieser Grundlage die – von der Kammer geteilte – überwiegende Ansicht vertreten, dass ein Betroffener danach, insbesondere auch wegen der zu garantierenden „Parität des Wissens“ bzw. der „Waffengleichheit“, ggü. der Verwaltungsbehörde verlangen könne, dass er Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen (existierenden weiteren) amtlichen, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen nehmen könne, um diese mit Hilfe eines privaten Sachverständigen auswerten und auf mögliche Messfehler hin überprüfen zu können, ohne dass bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorlägen oder vom Betroffenen vorgetragen worden seien. Denn der Betroffene bzw. seine Verteidigung werde ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollten. Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers könne daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts. Solche weitreichenden Befugnisse stünden dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zu. Zwar erlaubten allein die begehrten Beiziehungsobjekte noch keine Beurteilung der verfahrensgegenständlichen Messung im konkreten Fall in belastender oder entlastender Hinsicht. Entscheidend sei nach Ansicht der Kammer aber, dass es auch keinen Erfahrungssatz gebe, dass ein standardisiertes Messverfahren unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefert. Soweit in der Rechtsprechung ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens bzw. Verstoß gegen das rechtliche Gehör bezogen auf die Ablehnung des in der Hauptverhandlung gestellten Beweisermittlungsantrags auf Beiziehung von außerhalb der Akte befindlichen Unterlagen verneint werde, seien die Sachverhalte nicht vergleichbar, da sich aus diesen Entscheidungen nicht ergebe, dass schon vor der Hauptverhandlung ggü. der Verwaltungsbehörde und dem Gericht Anträge auf Aushändigung bzw. Einsicht gestellt und negativ beschieden würden. Vorliegend habe B derartige Anträge jedoch bereits im Vorfeld gestellt.
Praxishinweis
Mit seinem – später ergangenen – Beschluss vom 12.11.2020 (BeckRS 2020, 34958) hat das BVerfG die Auffassung des LG Bielefeld – jedenfalls im Hinblick auf das Recht der Akteneinsicht – bestätigt und die Betroffenenrechte im Bußgeldverfahren nachhaltig gestärkt. Weil nunmehr geklärt sein dürfte, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren auch ein Anspruch auf Zugang zu Informationen außerhalb der Akte folgt, dürfte die verbreitete Praxis der Bußgeldgerichte, entsprechende Anträge schlicht abzulehnen oder nicht zu bescheiden, nicht mehr statthaft sein. Andererseits besteht weiterhin eine Unschärfe in Bezug auf Art und Umfang der herauszugebenden Daten. So melden erste Gerichte bereits wieder Zweifel an, ob der Einblick in sog. Rohmessdaten tatsächlich zur gewünschten Waffengleichheit führen kann. Auch wird aus der vorliegenden Entscheidung jedenfalls deutlich, dass sich der Verteidiger unbedingt schon ggü. der Verwaltungsbehörde um die gewünschten Daten bemühen sollte und nicht erst im gerichtlichen Verfahren (vgl. auch AG St. Ingbert BeckRS 2021, 174).
LG Bielefeld, Beschluss vom 25.08.2020 - 10 Qs 278/20, BeckRS 2020, 21157