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Zu starr: Die Frist zur Revisionsbegründung
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Die Absetzung des schriftlichen Urteils im NSU-Prozess lange Zeit nach der Urteilsverkündung hat auf eine strafprozessuale Merkwürdigkeit aufmerksam gemacht, die seit Langem umstritten ist: Die extreme Diskrepanz in Umfangsverfahren zwischen den Fristen zur Urteilsabsetzung und Begründung der Revision.

18. Mai 2020

Das Urteil im NSU-Verfahren wurde im Juli 2018 verkündet, schriftlich aber erst im April 2020 zu den Akten gebracht. Möglich macht dies § 275 I 2 StPO, der die Frist für die Urteilsabsetzung an die Zahl der Verhandlungstage koppelt. Das leuchtet ein, da mit der Verhandlungsdauer der Verfahrensstoff wächst, mit dem sich das Gericht auseinandersetzen muss. Nach 438 Verhandlungstagen im NSU-Verfahren betrug die Frist zur Urteilsabsetzung über 21 Monate. Das OLG München hat diese Frist ausgeschöpft und ein Urteil im Umfang von 3.025 Seiten vorgelegt. Angesichts des Umfangs und Gewichts der Vorwürfe sowie der Bedeutung des Verfahrens ist das nachvollziehbar. Im schroffen Gegensatz dazu steht aber die Frist von nur einem Monat für die Verteidigung und den Generalbundesanwalt zur Begründung ihrer Revisionen (§ 345 StPO). Diese starre Frist gilt unabhängig davon, ob die Hauptverhandlung nur wenige Stunden oder mehrere Jahre dauerte, ob das Sitzungsprotokoll sehr dünn ist oder viele tausend Seiten umfasst! Das leuchtet – auch bei Beachtung der Unterschiede zwischen Urteilsabfassung und Revisionsbegründung – nicht ein, weil mit der Dauer der Verhandlung auch der Verfahrensstoff wächst, der zu prüfen ist. Zudem gelten strenge Anforderungen für die Begründung von Verfahrensrügen. Alle erforderlichen Verfahrenstatsachen müssen fristgemäß vorgetragen werden (§ 344 II 2 StPO). Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Ergänzung einer lückenhaften Begründung schließt die Rechtsprechung aus.

Gescheiterte Reformforderungen

Deshalb wurde früh kritisiert, dass eine umfangreiche Hauptverhandlung nicht auch zu einer Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist führt – ähnlich (nicht gleich!) wie bei der Urteilsabsetzungsfrist. Die Forderung nach einer Änderung lebte auf, als der Österreichische Verfassungsgerichtshof im Jahr 2000 feststellte, dass eine vergleichbar starre Regelung der österreichischen StPO verfassungswidrig war, da sie in Extremfällen gegen die Garantie verstieß, ausreichend Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung zu haben (Art. 6 IIb EMRK). Gleichermaßen beanstandete 2007 der damalige Richter am BGH Kuckein, dass die nicht verlängerbare Frist des § 345 StPO in Umfangsverfahren keinen effektiven Rechtsschutz ermöglicht. Dennoch lehnte 2015 die Expertenkommission zur effektiven und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens mehrheitlich eine Verlängerung der Frist ab. Dagegen spreche das Beschleunigungsgebot und der Umstand, dass die Revisionsbegründung schon vor der Zustellung des Urteils vorbereitet werden könne.

Gründe für eine Änderung

Das Beschleunigungsgebot fordert keine starre Frist ohne Rücksicht auf die Sache, sondern eine Entscheidung „innerhalb angemessener Frist“ (Art. 6 I 1 EMRK). BVerfG und BGH heben bei der Beurteilung der Verfahrensdauer stets hervor, dass es nicht auf einen rein rechnerischen Maßstab ankommt, sondern auf die Gesamtwürdigung aller besonderen Umstände im Einzelfall. Dazu gehört namentlich der Umfang des Verfahrens. Eine angemessene Verlängerung der Frist zur Revisionsbegründung in besonders umfangreichen Sachen verstieße deshalb ebenso wenig gegen das Beschleunigungsgebot wie die gestaffelte Urteilsabsetzungsfrist gem. § 275 I 2 StPO. Zwar gibt es wenige Verfahrensrügen, die sich ohne Kenntnis des schriftlichen Urteils vorbereiten lassen, etwa Rügen der Besetzung oder der Mitwirkung befangener Richter. Sie spielen in der Praxis aber eine geringe Rolle. Die meisten Verfahrensrügen können erst in Kenntnis des schriftlichen Urteils geprüft und bearbeitet werden. So lässt sich nur im Zusammenhang mit den Urteilsgründen beurteilen, ob alle Feststellungen auf dem Inbegriff der Hauptverhandlung beruhen, ob Wahrunterstellungen bei der Ablehnung von Beweisanträgen eingehalten wurden, ob Beweistatsachen, die vom Gericht als bedeutungslos bezeichnet worden sind, es am Ende auch geblieben sind, ob die Aufklärung weiterer Tatsachen im Rahmen der Beweiswürdigung des Gerichts relevant gewesen wäre und ob Hinweise auf eine veränderte Bewertung der Sach- und Rechtslage hätten erteilt werden müssen. Ohne schriftliches Urteil kann der Revisionsverteidiger wenig kontrollieren und vorbereiten. Deshalb reicht die Monatsfrist in Umfangsverfahren nicht aus. Es ist Zeit, für diese Fälle eine Verlängerung vorzusehen. •

Dr. Ralf Ritter ist Fachanwalt für Strafrecht in Hamburg.