NJW-Editorial
Zu kurz gesprungen

Massenhaft gleichgelagerte Einzelklagen belasten die Ziviljustiz seit Jahren. Der Verschwendung von Justizressourcen will das Bundesjustizministerium jetzt Einhalt ge­bieten. Geplant ist ein Leitentscheidungsverfahren (LeitEVerf) beim BGH.
Die den Einzelklagen zugrunde liegenden Rechtsfragen sollen höchstrichterlich auch dann „zügig“ geklärt werden können, wenn eine Entscheidung durch prozesstaktisches Verhalten der Parteien verhindert wird. Die Überschrift dieses Beitrags macht deutlich, wie das Vorhaben zu bewerten ist.

29. Jun 2023

Nach dem Gesetzentwurf sollen Revisionsverfahren, die „für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung“ sind, zu LeitEVerf bestimmt werden. Sollte die Revision zurückgenommen werden oder sich durch Vergleich erledigen, könnte gleichwohl eine Entscheidung ergehen. In dieser Leitentscheidung würden die Rechtsfragen des Verfahrens geklärt, ohne Bindungs-, dafür aber mit Orientierungswirkung für die Instanzgerichte. Der Referentenentwurf muss als Gegenentwurf zum Vorschlag eines Vorabentscheidungsverfahrens (VorabEVerf) beim BGH (Heese/Schumann NJW 2021, 3023) verstanden werden. Das BMJ ist damit zwar gesprungen, aber viel zu kurz.

Der Zeitpunkt für die Revision im Interesse des Rechts soll nur geringfügig nach vorne verlagert werden, vom Beginn der mündlichen Verhandlung (§ 565 ZPO) zum Ablauf der Revisionserwiderungsfrist (§ 552b ZPO-RefE). Parteien werden ihre Prozesstaktik anpassen. Im Übrigen bringt der RefE nichts Neues; solche Leitentscheidungen kann der BGH (wenn er will) jetzt schon (vgl. BGH NJW 2019, 1133). Unreflektiert ist der vorgesehene Ausschluss des LeitEVerf im Verwaltungsprozess, wo mangels taktischen Parteiverhaltens kein Bedarf bestehe. Dabei interessiert auch in einem Zivilprozess etwa die Aufhebung der angepassten Typenzulassung wegen eines unzulässigen ­Thermofensters im VW Software-Update (VG Schleswig BeckRS 2023, 2863) bei der Schadensbewertung. Auch dort: prozesstaktische Ausschöpfung des Verwaltungsrechtswegs und Spiel der Industrie auf Zeit. Eine frühzeitige höchstrichterliche Klärung gäbe es nun einmal nur im Wege eines VorabEVerf, „das schon aus der ersten Instanz heraus initiiert werden kann“ (BT-Drs. 20/5560). Die Kritiker des VorabEVerf behaupten einen „Bedeutungsverlust“ der OLG/OVG. Doch diese verstehen sich in Massenfällen (zu Recht) längst nur noch als „Durchlauferhitzer“ (vgl. BGH NJW 2021, 385).

Ressourcenschonender Rechtsschutz in Massenfällen lässt sich nur durch ein System konkurrierender Verfahrensangebote erreichen: Ein Instrument des kollektiven Rechtsschutzes im Zentrum, dessen attraktive Ausgestaltung das Gros der Kläger einfängt. Kollektive und individuelle Verfahren werden in einem Gerichtsstand konzentriert; zur Vermeidung redundanter Sachaufklärung geht ein „Leithammelprozess“ voraus. Ein ­VorabEVerf sichert die rasche höchstrichterliche Klärung der Rechtsfragen (Heese NJW 2021, 887, 891 ff.). Ein bloßes LeitEVerf reicht nicht aus; es ist vielleicht ein Kiesel, aber sicher kein „Baustein für eine effiziente Erledigung von Massenverfahren“.

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Prof. Dr. Michael Heese, LL.M. (Yale), ist Lehrstuhlinhaber an der Universität Regensburg.