Die Koalition folgt damit dem vor allem von Teilen der Anwaltschaft präferierten Ansatz. Dieser stößt allerdings offenbar in der Praxis, auch bei manchen Strafverteidigern, auf wenig „Gegenliebe“. Denn neben den immensen Kosten spricht eine Vielzahl weiterer Argumente gegen eine Aufzeichnung aller strafrechtlichen Hauptverhandlungen in Bild und Ton. So merkte der Medienrechtler Dr. Jörn Claßen auf Twitter an, dass eine solche Regelung verfassungsrechtlich fragwürdig sei. Das ist stichhaltig: Wenn sich jemand während einer Hauptverhandlung filmen lassen muss, wird intensiv in dessen Grundrechte eingegriffen. Dabei kann sich im Regelfall kein Prozessbeteiligter die Teilnahme an einer Hauptverhandlung frei aussuchen. Hier dürften hohe Anforderungen an eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung zu stellen sein.
In engem Zusammenhang damit steht die zentrale Frage, was mit diesen Aufzeichnungen geschieht. Wie schützt man sie vor unerlaubtem Zugriff? Wie lässt sich verhindern, dass Videos mit intimen oder potenziell gefährlichen Einlassungen oder Aussagen den Weg an die Öffentlichkeit finden? Und wie wirkt sich schon diese bloße Möglichkeit auf das Aussageverhalten von – ohnehin oft verängstigten – Zeugen aus? Könnte sie dies nicht am Ende beispielsweise in Verfahren im Zusammenhang mit der sogenannten Clankriminalität weiter verunsichern – mit Folgen für die Aussagen und den gesamten Prozess? Auch das Argument, die Aufzeichnung diene den Interessen des Angeklagten, kann sich in sein Gegenteil verkehren: Was bedeutet es für die Resozialisierung, wenn die aufgezeichnete Einlassung publik wird? Wie verhält sich das zu dem vom BVerfG gestärkten „Recht auf Vergessenwerden“?
Probleme in der Revisionsinstanz
Das Revisionsgericht ist grundsätzlich an die tatrichterlichen Feststellungen gebunden. Wie genau und zu welchem Zweck sollen die Inhalte dort eingeführt werden? Sollen in diesen Verfahren – überspitzt gefragt – stundenlange Inaugenscheinnahmen von Videos aus instanzgerichtlichen Hauptverhandlungen durchgeführt werden? Wie genau sollen die Inhalte dort eingeführt werden? Und führt das nicht letztlich zu einer wenig wünschenswerten Vermischung von Tatsachen- und Revisionsinstanz? Damit verbunden ist ein weiteres praktisches Problem: Wie will man das Video den Beteiligten zur Kenntnis bringen? Eine Einsichtnahme in stundenlange Videos durch Verteidiger auf der Geschäftsstelle wäre nicht praktikabel, deren Versendung hingegen ein immenses Datenschutzrisiko.
Geändertes Prozessverhalten
Auch ein – womöglich unterbewusst – geändertes Prozessverhalten der Beteiligten „im Scheinwerferlicht“ scheint denkbar. In der Praxis wird davon berichtet, dass bisweilen schon eine größere Saalöffentlichkeit zu einer deutlich veränderten Verhandlungsatmosphäre führt. Ist es sinnvoll, jedes Räuspern, Stirnrunzeln und jeden Satz dauerhaft aufzuzeichnen und damit der nachträglichen Interpretation zugänglich zu machen? Hauptverhandlungen mit Kamera dürften jedenfalls sehr hölzern werden – ob dies wirklich im Sinne des Angeklagten und der Rechtspflege ist, scheint zweifelhaft.
Hält man eine umfassendere Dokumentation der Hauptverhandlung wirklich für notwendig – dies wird in der Debatte übrigens oft als gegeben vorausgesetzt, aber nur selten hergeleitet und begründet –, sollte man sich des mildesten Mittels bedienen. Insoweit wäre die Aufnahme eines schriftlichen (Wort-)Protokolls vorzugswürdig (vgl. Schmitt NStZ 2019, 1, 7) – ähnlich der Praxis an den Amtsgerichten. Dies könnte mit moderner Technik den Beteiligten auch unmittelbar zugänglich gemacht und etwaige Unstimmigkeiten könnten so behoben werden. Damit wäre eine Dokumentation der Hauptverhandlung ihrem Zweck entsprechend gesichert – ohne die immensen Risiken und Nachteile einer Bild-Ton-Aufzeichnung. Es bleibt zu hoffen, dass die Koalition in dieser Frage nochmals den Diskurs mit der Praxis sucht und ihr Vorhaben an dieser Stelle so nicht umgesetzt wird.
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