Urteilsanalyse
Zeitgeringfügigkeit von Beschäftigungen
Urteilsanalyse
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Bei der Einstufung einer Beschäftigung als kurzfristig („zeitgeringfügig“) und damit sozialversicherungsfrei kommt es auf die Verteilung der Arbeitszeit nicht an: Eine an 5 Tagen in der Woche ausgeübte Tätigkeit kann bei Einhaltung der maximalen Zahl an Arbeitstagen kurzfristig sein, auch wenn sie die maximale Zahl an Monaten überschreitet. Die insoweit anders lautenden Geringfügigkeits-Richtlinien sind nach Ansicht des BSG unzutreffend und binden die Gerichte nicht.

13. Jul 2021

Anmerkung von

Rechtsanwältin Ursula Mittelmann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 13/2021 vom 02.07.2021

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Sachverhalt

Die beklagte Rentenversicherung forderte im Rahmen einer Betriebsprüfung von der Klägerin Sozialversicherungsbeiträge i.H.v. 2.726,50 EUR für eine Beschäftigung nach, die von der Klägerin als kurzfristig eingestuft und als sozialversicherungsfrei behandelt worden war. Die Klägerin hatte mit der Beigeladenen für die Zeit zwischen deren Schulende und Studienbeginn „mit Wirkung vom 01.07.2010 bis 07.09.2010“ (also mehr als 2 Monate) einen „Rahmenarbeitsvertrag für eine kurzfristige Beschäftigung“ als Bürokraft „mit maximal 50 Arbeitstagen“ geschlossen. (§ 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV sah zur fraglichen Zeit die Kurzfristigkeit bei einer Begrenzung auf längstens 2 Monate oder 50 Arbeitstage vor.) Im Vertrag sicherte die Beigeladene zu, keinen weiteren Beschäftigungen nachzugehen, bisher im Kalenderjahr auch noch keine kurzfristige Beschäftigung ausgeübt zu haben und die etwaige Aufnahme einer Beschäftigung unverzüglich schriftlich anzuzeigen.

Innerhalb des vertraglich genannten Zeitraums arbeitete die Beigeladene dann an 5 Tagen in der Woche und insgesamt an 49 Tagen gegen ein Arbeitsentgelt i.H.v. insgesamt 7.000 EUR bei einem Stundenlohn von 14 EUR.

Nach Auffassung der Beklagten schied die Annahme einer geringfügigen Beschäftigung aus, weil sie an 5 Tagen in der Woche ausgeübt und der deshalb maßgebende 2-Monats-Zeitraum überschritten worden sei.

Das SG hob die Bescheide auf; die vorherige vertragliche Begrenzung auf (nicht überschrittene) 50 Arbeitstage führe nach dem Gesetzeswortlaut zur Geringfügigkeit.

Das LSG hob das Urteil auf und wies die Klage ab. Da sich beide Zeiträume (2 Monate bzw. 50 Arbeitstage) der Länge nach unterschieden, müsse es eine eindeutige Abgrenzung geben, unter welche Tatbestandsalternative eine Beschäftigung jeweils zu subsumieren sei. Ein Abstellen auf Arbeitstage komme erst dann in Betracht, wenn eine monatliche Betrachtungsweise nicht mehr möglich sei, weil sich die Zeiträume nicht mehr mit der betriebsüblichen Arbeitszeit ständig Beschäftigter (5 oder 6 Tage wöchentlich) deckten. Die Grenze von 50 Arbeitstagen könne daher ausschließlich für Beschäftigungen von maximal 4 Tagen pro Woche Anwendung finden.

Entscheidung

Das BSG hebt auf die Revision der Klägerin hin das Urteil des LSG auf und weist die Berufung der Beklagten zurück.

Zunächst hält das BSG an der Zuordnung von Sachverhalten zur Entgeltgeringfügigkeit einerseits und Zeitgeringfügigkeit andererseits danach fest, dass erstgenannte Beschäftigungen „regelmäßig“ ausgeübt werden und die zweitgenannten Beschäftigungen „nur gelegentlich, d.h. ohne von vorne-herein auf ständige Wiederholung gerichtet zu sein“. Vorliegend sei klar gewesen, dass Tätigkeiten über den Rahmen von etwas mehr als 2 Monaten hinaus nicht verrichtet werden sollten, also die Beschäftigung nicht auf Regelmäßigkeit angelegt gewesen sei.

Die Tätigkeit zwischen Schulende und Studienbeginn der Beigeladenen sei ersichtlich auch nicht berufsmäßig ausgeübt worden.

Über den Kern des Streits, wie sich die beiden Alternativen der Zeitgeringfügigkeit in § 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV zueinander verhalten, wenn eine Tätigkeit an 5 Tagen in der Woche ausgeübt wird, habe sich das BSG bisher nicht geäußert. Entgegen der herrschenden Kommentarliteratur und entgegen den die Gerichte nicht bindenden Geringfügigkeits-Richtlinien stellten die nach Arbeitstagen und die nach Monaten berechnete Zeitgrenze gleichwertige Tatbestandsalternativen dar. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut finde bei einer an mindestens 5 Tagen in der Woche ausgeübten Beschäftigung keineswegs allein die 2-Monats-Regelung Anwendung.

Angesichts der Gleichwertigkeit der Alternativen sei die Zeitgeringfügigkeit also gegeben, weil zwar die 2-Monats-Grenze überschritten war, aber die Arbeit an weniger als 50 Arbeitstagen geleistet wurde.

Ob in die 49 Arbeitstage auch bezahlte Urlaubstage eingerechnet waren, ließ das BSG dahinstehen. Die vertragliche Begrenzung auf maximal 50 Arbeitstage innerhalb des genannten Zeitraums könne nur abschließend verstanden werden. Eine Erweiterung um Urlaubstage sei bei der gebotenen vorausschauenden Betrachtung zu Beginn des Beschäftigungsverhältnisses nicht beabsichtigt gewesen. Durch einen etwaigen Urlaubsabgeltungsanspruch werde das Beschäftigungsverhältnis nicht verlängert.

Praxishinweis

1. Das BSG weicht in seinem Urteil ausdrücklich von den Geringfügigkeits-Richtlinien vom 21.11.2018 ab (Punkt 2.3.1 mit Beispiel 42). Die Sozialversicherungsträger haben im Rundschreiben vom 31.05.2021 reagiert und angekündigt, dem Urteil zu folgen und an der bisherigen Rechtsauffassung spätestens ab 01.06.2021 nicht mehr festzuhalten. Die Geringfügigkeits-Richtlinien würden zeitnah angepasst.

2. Die Zeitgrenzen von 2 Monaten bzw. 50 Arbeitstagen sind mehrfach geändert worden, teilweise in § 8 SGB IV direkt, teils über § 115 SGB IV in unterschiedlichen Fassungen und zuletzt über § 132 SGB IV: Seit 01.01.2015 gilt eine Grenze von 3 Monaten bzw. 70 Arbeitstagen, unterbrochen in Folge der Corona-Pandemie vom 01.03.2020 bis 31.10.2020 durch eine Grenze von 5 Monaten bzw. 115 Arbeits-tagen und vom 01.03.2021 bis 31.10.2021 durch eine Grenze von 4 Monaten bzw. 102 Arbeitstagen. Zu beachten sind hier diverse Übergangsregelungen bei zeitlichen Überschneidungen.

3. Das Gesetz vom 26.05.2021 (BGBl. I, 1170) hat zur kurzfristigen Beschäftigung mit Wirkung vom 01.01.2022 weitere Änderungen gebracht:

a) Arbeitgeber sind nach einem dann neu in § 28a SGB IV eingefügten Absatz 9a verpflichtet, für zeitgeringfügig Beschäftigte bei der Meldung anzugeben, wie diese für die Dauer der Beschäftigung krankenversichert sind.

b) § 13 Abs. 2 DEÜVO statuiert eine Verpflichtung der Einzugsstelle (Minijob-Zentrale), bei Anmeldung einer zeitgeringfügigen Beschäftigung dem meldepflichtigen Arbeitgeber unverzüglich mitzuteilen, ob für die beschäftigte Person aktuell oder zuvor im Kalenderjahr solche Beschäftigungen bestehen bzw. bestanden haben.

BSG, Urteil vom 24.11.2020 - B 12 KR 34/19 R, BeckRS 2020, 44043