Interview
Zeitenwende im Straßenverkehrsrecht
Interview
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Unsere Mobilität muss nachhaltiger werden. Das gilt vor allem für den Straßenverkehr. Doch das ist gar nicht so einfach, meint Prof. Dr. Rainer Heß. Denn unser Straßenverkehrsrecht priorisiert immer noch zu sehr das Auto, wie er uns erläutert hat. Eine Reform ist überfällig.

20. Jan 2023

NJW: Das Straßenverkehrsrecht ist in die Jahre gekommen und nicht mehr zeitgemäß, da zu sehr auf den Autorverkehr fokussiert, heißt es. Trifft das zu, und was sind die wesentlichen Schwachstellen?

Heß: So ist es. Das Straßenverkehrsrecht „startete“ 1909 vor über 100 Jahren mit dem Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen. Zwar wurde 1952 dieses in „Straßenverkehrsgesetz“ umbenannt. Obwohl es damit dem Namen nach Geltung für den gesamten Straßenverkehr beansprucht, steht dort aber noch immer das Auto im Mittelpunkt. Die Bedingungen haben sich jedoch grundlegend geändert. Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz sind ebenso wie städtebauliche Aspekte zu berücksichtigen. Diesem Wandel hat auch und insbesondere das Verkehrsrecht Rechnung zu tragen. Es geht nicht mehr nur um die Gefahrenabwehr (Sicherheit und Ordnung im Verkehr), sondern auch darum, die besonders verletzlichen Personengruppen, etwa Fußgänger und Radfahrer, stärker zu schützen. Zudem muss der grundlegende Bewusstseinswandel im Hinblick auf nachhaltige Verkehrssysteme auch zu geänderten Regelungen des Straßenverkehrs führen. Letztlich besteht über die Notwendigkeit einer Reform des Straßenverkehrsrechts im Sinne einer echten Verkehrswende auch im Hinblick auf die Folgen des dramatischen Klimawandels praktisch Einigkeit. Wir haben insoweit also kein Erkenntnis-, sondern ein massives Umsetzungsproblem.

NJW: Braucht es für die Umsetzung eine Reform oder ließen sich die von Ihnen erwähnten Punkte nicht auch durch eine geänderte Rechtsprechung herbeiführen?

Heß: Ohne eine umfassende Gesetzesreform wird es nicht gehen; das hat auch die Politik erkannt: Im Koalitionsvertrag der „Ampel“ ist die Modernisierung des Straßenverkehrsrechts vorgesehen. Nicht nur in der Verkehrsministerkonferenz besteht Einigkeit darüber, durch gesetzliche Änderungen im StVG und in der StVO den Schutz des Klimas, der Umwelt sowie der Gesundheit als weitere Ziele zu berücksichtigen. Bundesverkehrsminister Wissing hat den Städten und Gemeinden insoweit auch mehr Gestaltungsspielraum versprochen. Dies muss nun gesetzlich verankert werden. Natürlich ist auch die Rechtsprechung gefordert. Rechtliche Regeln können und müssen schon jetzt im Sinne einer Verkehrswende ausgelegt werden. Diese Auslegung findet allerdings ihre Grenze an eindeutigen gesetzlichen Vorgaben, die sich noch an den Bedürfnissen des motorisierten Verkehrs orientieren. Die als notwendig erkannte Verkehrswende setzt daher eine gesetzliche Umstrukturierung des Straßenverkehrsrechts voraus, die dann auch von der Rechtsprechung umgesetzt werden muss. Verkehrssteuernde Maßnahmen, wie etwa zulässige (Höchst-)Geschwindigkeit oder Regelungen des ruhenden Verkehrs, können aber nicht von der Rechtsprechung angeordnet werden. Hier ist die Legislative und im Folgenden die Exekutive gefordert.

NJW: Würde es nicht reichen, wie von der JuMiKo diskutiert, nur die Ziele des Straßenverkehrsrechts neu zu formulieren, um den Fokus vom Auto auf andere Interessen, insbesondere den Klima- und Umweltschutz, zu lenken?

Heß: Nein, ohne eine gesetzliche Anpassung auch einzelner Regelungen des StVG und der StVO sind diese Ziele nicht erreichbar. Die Zeit drängt, schließlich sollen nach dem Bundesklimaschutzgesetz bis 2030 im Vergleich zu 1990 65 % der Treibhausgasemissionen eingespart werden. Der von der Bundesregierung eingesetzte unabhängige Expertenrat hält dies bei einem „Weiter so“ für nicht erreichbar, wobei der Verkehrssektor mit einem Rückgang der Emissionen um lediglich 13 % zwischen 2000 und 2021 die traurige Spitzenposition einnimmt. Maßnahmen in diesem Bereich sind also nicht nur eine Frage politischer Absichtserklärungen, sondern rechtlich verpflichtend, wie der Beschluss des BVerfG vom 24.3. 2021 (NJW 2021, 1723) mehr als deutlich gemacht hat. Die Verkehrsministerkonferenz hat deshalb auch am 29.11. 2022 ihre Sorge über die Zielverfehlung auf Basis der bisherigen Maßnahmen des Bundesverkehrsministeriums zum Ausdruck gebracht. Die Vereinbarung im Koalitionsvertrag, dass StVG und StVO angepasst werden sollen, und neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs als zusätzliche Ziele Klima- und Umweltschutz, Gesundheit sowie die städtebauliche Entwicklung zu berücksichtigen sind, wurde einhellig begrüßt.

NJW: Was bedeutet das jetzt konkret für eine Reform des Verkehrsrechts? Wo müsste die ansetzen?

Heß: Die erforderliche schnelle Reform hat in zwei Schritten zu erfolgen: Als Erstes muss das StVG vom Bundestag neu ausgerichtet werden. Dann kann die StVO unter Mitwirkung der Bundesländer neu gefasst werden. In einem neu formulierten § 1 StVG muss der Straßenverkehr neben der Sicherheit, Leichtigkeit und Ordnung auch der Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer und dem Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutzes Rechnung tragen. In den Verordnungsermächtigungen für das Bundesverkehrsministerium nach § 6 StVG (Ermächtigung für § 45 StVO) sind diese Ziele ebenfalls deutlich zu formulieren. Dann ist auch der Weg frei für eine umfassende Anpassung des § 45 StVO, mit dem Straßenverkehrsbehörden ermächtigt werden, Verkehrsbeschränkungen anzuordnen. Diese können sich dann nicht mehr nur auf die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs stützen, sondern die Gemeinden können Verkehrsbeschränkungen auch mit Zielen des Klima- und Umweltschutzes und der Gesundheit begründen. Dadurch erhalten sie einen erheblichen Gestaltungsspielraum auch im Hinblick auf eine nachhaltige und diesen Zielen dienende Entwicklung. Daneben können – ein entsprechender politischer Wille zur Umsetzung vorausgesetzt – die einzelnen Regelungen in der StVO für die Zielerreichung geändert werden, etwa die zur zulässigen Höchstgeschwindigkeit (§ 3 StVO). Erforderlich sind außerdem weitere Ergänzungen und Änderungen im Hinblick auf schwächere Verkehrsteilnehmer, etwa Kinder, Fußgänger und Radfahrer.

NJW: Gibt es schon Vorschläge, wie ein nachhaltiges Straßenverkehrsrecht aussehen könnte?

Heß: Die gibt es; es würde aber den Rahmen dieses Interviews sprengen, diese hier im Einzelnen wiederzugeben. Im Internet sind aber alle Reformvorschläge für einen klimafreundlichen Straßenverkehr verfügbar. Ausgangspunkt ist eine Änderung der Grundregel des § 1 StVG. Dort, wie auch in der Verordnungsermächtigung des § 6 StVG, müssen neben der Sicherheit, Leichtigkeit und Ordnung des Verkehrs nunmehr auch die gleichberechtigten Mobilitätsinteressen aller Verkehrsteilnehmer sowie die Belastungen der Umwelt und des Klimas berücksichtigt werden. Eine solche Neuausrichtung hätte Signalcharakter. Ebenso wie dies eine entsprechende Umsetzung in dem umfassenden Katalog des § 45 StVO im Hinblick auf Klima- und Umweltschutz hätte.

NJW: Müsste sich auch (bau-)planungsrechtlich etwas ändern? Brauchen Kommunen mehr Gestaltungskompetenzen im Straßenverkehrsrecht?

Heß: Eindeutig ja. Die aktuellen Regeln der StVO sind stark auf das Auto ausgerichtet. Für Kommunen ist es daher teilweise schwierig, den öffentlichen Nahverkehr sowie den Fuß- und Radverkehr zu fördern. Nur mit einer Erweiterung der Kompetenzen können Kommunen Veränderungen vornehmen, die für schwächere Verkehrsteilnehmer die Verhältnisse im Straßenverkehr verbessern und aktive Mobilität und öffentliche Verkehrsmittel gegenüber der Leichtigkeit des Autoverkehrs priorisieren.

NJW: Lassen Sie uns noch einen Ausblick wagen.

Heß: Über die Ziele besteht Einigkeit. Es müssen nun, auch darüber besteht Konsens, schnelle Änderungen der straßenverkehrsrechtlichen Regelungen erfolgen. Gerade vor dem Hintergrund, dass der Verkehrssektor zu den größten Problemzonen des Klimaschutzes gehört, ist es wenig verständlich, dass gerade dieser Bereich deutlich hinter den Klimazielen hinterherhinkt. Es gibt aber schon sinnvolle Ansätze. Dies zeigen etwa die Erfahrungen mit dem Neun-Euro-Ticket. Die Umsetzung der umfangreichen Vorschläge zur Änderung des Straßenverkehrsrechts durch das Bundesverkehrsministerium wären ein ebenso wichtiger wie auch rechtlich erforderlicher Schritt. Wie bereits gesagt: es besteht kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. 

 

Prof. Dr. Rainer Heß, LL.M., ist Fachanwalt für Versicherungsrecht und für Verkehrsrecht. Nach dem Studium in Bochum, Würzburg und Münster sowie einer Assistentenzeit an der Universität Münster ist er 1984 als Partner in die Kanzlei Dr. Eick & Partner eingetreten, die 1908 gegründet wurde. Dort ist er mittlerweile als Seniorpartner bundesweit im Haftungs- und Versicherungsrecht tätig ist. Seit 2011 ist Heß Honorarprofessor an der Universität Bielefeld.

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Interview: Monika Spiekermann.