Urteilsanalyse
Zange des Zahnarztes als gefährliches Werkzeug
Urteilsanalyse
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Extrahiert ein Zahnarzt seinem Patienten ohne medizinische Indikation mehrere Zähne, begeht er - so das OLG Karlsruhe - die Körperverletzung mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB. 

27. Apr 2022

Anmerkung von Wiss. Mit. Dr. Sören Lichtenthäler, Knierim & Kollegen, Mainz

Aus beck-fachdienst Strafrecht 08/2022 vom 22.04.2022

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Sachverhalt

Die StA wirft dem A in ihrer Anklage vom 24.2.2017 vor, im Zeitraum zwischen dem 20.7.2010 und dem 6.6.2014 als Zahnarzt in 33 Fällen seinen Patienten (mittels der dafür erforderlichen Instrumente, insbesondere einer Zange) Zähne extrahiert zu haben, obwohl es hinreichend aussichtsreiche Behandlungsalternativen gegeben habe. Zuvor habe der A die Extraktion bestimmter Zähne als zwingend notwendig empfohlen, woraufhin die Patienten im Vertrauen auf diese Angaben dem Eingriff zugestimmt hätten. Dem A sei es dabei darauf angekommen, seine Patienten im weiteren Verlauf mit für ihn einträglichem Zahnersatz versorgen zu können. Auf dieser Grundlage erhob die StA Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB in 33 Fällen.

Das LG beurteilte die Handlungen nicht als gefährliche, sondern nur als einfache Körperverletzung, weil das von einem zugelassenen (Zahn-)Arzt bei einem ärztlichen Eingriff bestimmungsgemäß verwendete ärztliche Instrument weder eine Waffe noch ein gefährliches Werkzeug sei. Aufgrund dieser von der Anklage abweichenden rechtlichen Beurteilung ließ das LG die Anklage hinsichtlich 29 Fälle mit der Maßgabe zu, dass insoweit von einfacher Körperverletzung auszugehen sei, lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens in vier Fällen aber ab, weil dem Verfahren, den Strafrahmen des § 223 Abs. 1 StGB zugrunde gelegt, mit Blick auf die länger als zehn Jahre zurückliegenden Tatzeiten das Verfahrenshindernis der (absoluten) Verjährung entgegenstehe. Gegen diesen Beschluss hat die StA sofortige Beschwerde eingelegt.

Entscheidung

Das OLG erachtete die Beschwerde als zulässig und begründet, weil die dem A angelasteten Taten als gefährliche Körperverletzung zu qualifizieren seien, sodass die Verjährungsfrist gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB zehn Jahre betrage. Hinsichtlich der verfahrensgegenständlichen Taten habe die Frist am 20.7.2010, 29.10.2010, 22.8.2011 bzw. am 23.8.2011 zu laufen begonnen und wurde (u.a.) durch die Anklageerhebung am 24.2.2017 unterbrochen (§ 78c Abs. 1 Ziff. 6 StGB).

Zur Begründung führt der Senat aus, dass die Einordnung eines gefährlichen Werkzeugs als Mittel der Tatbegehung im Verhältnis zur Waffe durch das 6. StrRG v. 26.1.1998 insoweit eine Änderung erfahren habe, als das gefährliche Werkzeug – anders als bei § 223a StGB aF – in der neuen Fassung des § 224 Abs. 1 Ziff. 2 StGB nicht mehr als Beispiel für eine Waffe, sondern eine Waffe nunmehr als Unterfall eines gefährlichen Werkzeugs zu verstehen sei. Entgegen der aufgrund der alten Rechtslage ergangenen Rspr. des BGH könne eine Abgrenzung, ob ein (zahn-)ärztliches Instrument als gefährliches Werkzeug einzustufen sei, nicht mehr danach erfolgen, ob es gleich einer Waffe zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken eingesetzt wird. Vielmehr sei auch bei ärztlichen Instrumenten danach zu fragen, ob der Gegenstand aufgrund seiner objektiven Beschaffenheit und der Verwendung im konkreten Fall dazu geeignet ist, dem Opfer erhebliche Verletzungen beizubringen, was der Senat für den vorliegenden Fall bejahte. Zwar würden Schmerzen während der Extraktion eines Zahnes mittels der dafür vorgesehenen zahnärztlichen Instrumente aufgrund einer örtlichen Betäubung nicht oder kaum verspürt. Die vom Angeklagten verwendeten Instrumente (namentlich die zur Zahnextraktion verwendete Zange) führten aber nach Trennung der Verbindung zum versorgenden Nerv zu dem unwiederbringlichen Verlust eines Teils des Gebisses sowie zusätzlich zu einer – jedenfalls für die Dauer einiger Tage – offenen Wunde im Mundraum der Patienten. Derartige Eingriffe seien nach Abklingen der lokalen Narkose idR mit nicht unerheblichen Schmerzen, Beschwerden bei der Nahrungsaufnahme und der Gefahr von Entzündungen verbunden, die nur durch Einnahme von Tabletten und oralhygienische Maßnahmen gemindert werden können, und zwar insbesondere dann, wenn wie vorliegend nacheinander mehrere Zähne entfernt werden. Unerheblich bei der Einordnung der vom A verwendeten Instrumente als gefährliche Werkzeuge sei der Umstand, dass der A als (damals) approbierter Zahnarzt zu deren regelgerechter Anwendung grundsätzlich in der Lage war und sie auch regelgerecht angewandt hat.

Praxishinweis

Heileingriffe, die nicht nur unerheblich in die körperliche Integrität des Patienten eingreifen oder die Gesundheit (und sei es nur kurzfristig) schädigen, sind auch dann tatbestandliche Körperverletzungen, wenn sie de lege artis durchgeführt werden und per saldo zu einer Verbesserung des gesundheitlichen Zustands quo ante führen – so die Rspr. und die hM in der Literatur (s. nur die Nachweise bei Hardtung, in: Münchener Kommentar zum StGB, § 223 Rn. 73). Das Unrecht der Tat kann aber selbstverständlich durch Einwilligung entfallen. Was den Grundtatbestand der Körperverletzung betrifft, gibt es (heute auch nach überwiegender Meinung im Schrifttum) also keine Sonderdogmatik der Heileingriffe (aA etwa: Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, § 223 Rn. 8).

Anders sieht es aber aus, was die Frage betrifft, unter welchen Voraussetzungen solche Eingriffe dem Qualifikationstatbestand des § 224 StGB unterfallen, insbesondere, ob allfällig dabei eingesetzte ärztliche Instrumente als gefährliche Werkzeuge i.S. von § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB klassifiziert werden können. In den bisher dazu ergangenen höchstrichterlichen Entscheidungen wurde diese Frage verneint: So entschied der BGH für den (auch dem vorliegenden Beschluss zugrunde liegenden Fall) der nicht gerechtfertigten Zahnextraktion mittels Zange, dass diese kein gefährliches Werkzeug darstelle, weil sie nicht zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken eingesetzt werde (BGH NJW 1978, 1206). Dieses Kriterium begründete er damit, dass nach § 223a StGB aF das gefährliche Werkzeug ein Spezialfall der Waffe sei und deshalb mit einer solchen vergleichbar sein müsse.

Wie das OLG Karlsruhe in der vorliegenden Entscheidung richtig herausstellt, hat sich dieses systematische Argument aufgrund der Neufassung des StGB durch das 6. StrRG erledigt. Denn nunmehr ist das gefährliche Werkzeug der Oberbegriff und die Waffe der Unterfall. Zwar könnte man einwenden, dass der Gesetzgeber des 6. StrRG meinte, in § 224 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 StGB würden lediglich sämtliche Fälle von § 223a aF aufgegriffen (vgl. BT-Drs. 13/9064, S. 15 f.), so dass er mit der mit der Neuformulierung des begrifflichen Verhältnisses von Waffe und gefährlichem Werkzeug keine sachliche Änderung beabsichtigte. Allerdings steht sein Wille der vom OLG Karlsruhe vertretenen Auslegung auch nicht entgegen, und was den Unrechtsgehalt betrifft, ist kein Grund ersichtlich, ärztliche Instrumente, wenn sie denn in einer Weise eingesetzt werden, die im konkreten Fall geeignet ist, erhebliche Verletzungen hervorzurufen, aus dem Kreis möglicher gefährlicher Gegenstände kategorisch auszuschließen (vgl. Hardtung, a.a.O., Rn. 50). Ohnehin: Wer einem anderen ohne dessen Einwilligung Zähne zieht, der greift dessen körperliche Unversehrtheit an und benutzt also die hierfür eingesetzte Zange zum Zwecke eines Angriffs (mag dieser auch lege artis vonstattengehen). Dass eine solche Extraktion geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen, hat das OLG eingehend begründet; sie dürfte aber auch bereits selbst als erhebliche Beeinträchtigung einzuordnen sein (aA Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 224 Rn. 8), zumal wenn man sie mit anderen Fällen vergleicht, in denen die Rechtsprechung die Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs bejaht (vgl. Fischer, StGB, § 224 Rn. 16). Es steht deshalb zu hoffen, dass sich die vom OLG im vorliegenden Beschluss vertretene Auffassung in der Rechtsprechung durchsetzt und der BGH seine auf der alten Gesetzeslage fußende Judikatur aufgibt.


OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.03.2022 - 1 Ws 47/22, BeckRS 2022, 6692