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Zahlen, bitte!
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Betrachtet man die Juristenausbildung durch das Brennglas der Statistik, fragt man sich manchmal, was die Verantwortlichen beruflich machen (die Unterzeichner eingeschlossen). Und dieses – mutmaßliche – Versagen schließt Bundes- und Landesministerien, Justiz­prüfungsämter und selbst die über Prüfungsfragen entscheidenden Gerichte mit ein.

16. Feb 2023

Manche Zahlen zur Juristenausbildung und -prüfung sind so überraschend, dass man ihnen kaum glauben will. Beispielsweise haben kürzlich von einer Kandi­datengruppe in Rheinland-Pfalz 61 % nach den schriftlichen Aufsichtsarbeiten des staatlichen Pflichtteils der Ersten Prüfung nicht bestanden, weitere 17 % erzielten nur ein „ausreichend“. Nahezu 80 % der genau 100 Teilnehmer (die wohl alle mit Gründen bis zum Ende studiert haben) werden also in dieser Prüfung entweder als vorläufig ungeeignet betrachtet und in eine zweite und meist letzte Runde geschickt oder als vermeintlich schwache Juristen in den mündlichen Prüfungsteil der staatlichen Pflichtfachprüfung weitergereicht. Haben sich hier wirklich 80 Holzköpfe zum Examen gemeldet?

Keine einheitlichen Anforderungen

Die Nichtbestehensquote schwankte 2020 im ersten Versuch der staatlichen Pflichtfachprüfung der Ersten Prüfung von 11 % (Sachsen-Anhalt) bis zu 45,9 % (im Nachbarland Brandenburg). Bemerkenswert. Dabei verlangt das Deutsche Richtergesetz in § 5d I die bundesweite Einheitlichkeit der Prüfungsanforderungen und der Leistungsbewertung. Die Juristenausbildungsstatistiken des Bundesamts der Justiz belegen, dass dies nicht der Fall ist. Oder bringt Brandenburg einen überproportionalen Anteil schwacher Juristen hervor? Wenn ja: Wie kommt das?

Frauen bestehen die Erste Prüfung überproportional häufig nicht: 2020 nahmen 60,6 % Frauen an der staatlichen Pflichtfachprüfung teil, aber 67,6 % der nichtbestandenen Kandidaten waren weiblich. Entsprechende Zahlen finden sich nicht in der universitären Schwerpunktprüfung und auch nicht im Zweiten Staatsexamen. Diese Zahlen sind seit Jahren bekannt, und nichts ändert sich. Wer erklärt einer Kandidatin, dass man den Gründen hierfür nicht nachgeht?

Wer erklärt überhaupt die dauerhaft vergleichsweise schlechten Resultate? Denn es scheiden ja schon vor der Prüfung viele Studierende aus, zuletzt je nach ­Zählweise 35 oder 38 % (siehe Heublein et al., DZHW Brief 05/2022, S. 12; und diese Schwundquote erfasst nur diejenigen, die nicht ein anderes Fach erfolgreich abschließen). Setzt man die Absolventenzahlen (2020 waren es 7.818 Zweitexaminierte) in Relation zu den seit Jahren konstant ca. 20.000 Studienanfängern jährlich, liegt der Schwund über 60 %. Volkswirtschaftlich ein Offenbarungseid.

Findet sich vielleicht in der Betreuungsquote eine Erklä­rung? Diese liegt nach jüngsten Statistiken fächerübergreifend an deutschen Universitäten bei 63 Studierenden pro Hochschullehrer (Forschung & Lehre 1/2023, S. 4). In der Rechtswissenschaft versucht man jedoch billig auszubilden, und so liegt die Relation jenseits der 100:1-Marke (Gesamtstatistik 2021 des DJFT).

Schulterzucken und weitermachen

Es gibt noch weitere denkwürdige Zahlen, aber wir ­hören hier auf. Zahlen wie diese müssten in jeder Institution, die sich auch nur entfernt für Bildungsfragen, speziell für Bildungsgerechtigkeit, gelingende Bildungsbiografien und faire Studien- und Prüfungsregeln interessiert, die Alarmglocken läuten lassen. Wir können hingegen sicher sein, dass im Bundesjustizministerium, im Bundesamt für Justiz, in den Landesjustizministerien und auch in den Justizprüfungsämtern der Länder wie stets bei Kritik an Examen und Studium reagiert wird: Schulterzucken und weitermachen. Man wird erst tätig werden, wenn entweder die Absolventenzahlen noch weiter zurückgehen oder mehr Gerichtsverfahren und vielleicht auch Schadensersatzprozesse zugunsten klagender Kandidaten ausgehen. Letzteres wird kommen, wenn die Richterschaft sich wieder ihrer „neutralen“ Rolle bewusst wird und einen unverbauten Blick auf den heutigen Zustand von Studium und Examina wirft. Einstweilen herrscht in der Politik Begeisterung über ein anspruchsvolles Examen, dessen Gestaltung und Durchführung erhebliche prüfungswissenschaftliche und prüfungsrechtliche Fragen aufwerfen.

Nach alledem kann man eigentlich niemandem ernsthaft empfehlen, Jura zu studieren; wir tun es aber ­weiterhin, weil es ein tolles Fach ist, allen unnötigen Widrigkeiten zum Trotz. Aber wer erklärt uns bitte diese Zahlen? Am liebsten: Bald.

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Prof. Dr. Roland Schimmel, Frankfurt University of Applied Sciences; ​Prof. Dr. Jörn Griebel, Universität Siegen.