Interview
Wissen statt Mythen
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Psychologie gehört als Grundlagenfach in die universitäre Ausbildung, sollte im Referen­dariat vertieft werden und zum Berufsstart eine spezialisierende Schärfung erfahren – das meint die Juristin und Diplom-Psychologin Alica Mohnert. Zusammen mit Daniel Effer-Uhe, ­Gründungsdekan der Juristischen Fakultät der Business & Law School in Berlin, hat sie das Lehrbuch „Psychologie für Juristen“ geschrieben. Wir haben sie dazu befragt.

13. Mai 2022

NJW: Warum sollten sich Juristen vertieft mit Psychologie befassen?

Mohnert: Informationen sachgerecht zu sammeln, auszuwerten und auf deren Grundlage angemessene Entscheidungen zu treffen, zählt zur erweiterten juris­tischen Methodik. Es gibt keinen juristischen Beruf, in dem man ohne Psychologie davonkommt, egal, wieviel oder wenig Publikumsverkehr der eigene Aufgaben­zuschnitt bietet. Auch der allein über einer Rechtsfrage brütende Jurist unterliegt in seinem eigenen Arbeitsverhalten psychologischen Mechanismen, ist sich da­rüber aber selten im Klaren. Das menschliche Gehirn ist im Alltag sehr leistungsfähig und wendig darin, mit wenigen und unvollständigen Informationen zu schnellen, halbwegs guten Schlüssen zu kommen, bei denen es oftmals nicht so tragisch ist, wenn man danebenliegt. Man spricht in der Psychologie von kog­nitiven Urteilsheuristiken. In der professionellen Jurisprudenz genügt das nicht. Hier führt deren unreflektierte Anwendung mitunter zu systematischen Fehlern und ultimativen Gerechtigkeitsdefiziten. Will man obendrein eine Einschätzung über eine Person wie die Mandantin oder den Angeklagten vornehmen, also Menschen, auf deren Gedanken man deutlich weniger Zugriff hat als auf die eigenen, sollte man erst recht eine realistische Ahnung davon haben, welche Instrumente die moderne Psychologie bietet und wo wir mit diesem Wunsch in Kaffeesatzleserei hineinrutschen.

NJW: Gilt das für einen Anwalt, eine Anwältin im gleichen Maße wie für eine Richterin oder einen Staats­anwalt?

Mohnert: Ganz klar: Ja.

NJW: In welchen Rechtsgebieten sind welche psychologischen Kenntnisse gefragt?

Mohnert: Grundlegende Kenntnisse sind in allen Rechtsgebieten gleichermaßen nötig, weil alle Juristen auswerten, erwägen und entscheiden, was zu tun ist. Darüber hinaus ist es je nach Gebiet angebracht, sie ­gezielt zu vertiefen. Explizit erwartet der Gesetzgeber sogar beispielsweise seit dem 1.1.2022 von Familienrichtern, sich gemäß § 23b III GVG in passenden Weiterbildungen belegbare Grundkenntnisse der Psychologie, insbesondere der Entwicklungspsychologie des Kindes, und der Kommunikation mit Kindern anzueignen. Diese Reform begrüße ich sehr, denn sie bedeutet eine flächendeckende Qualitätssicherungsmaßnahme, die der Ermittlung des Kindeswohls langfristig dienen wird. Als Referentin an der Deutschen Richterakademie sowie für die verschiedenen Bundesländer trage ich selbst dazu bei, dass diese Erwartung Früchte trägt.

NJW: Mal ein praktisches Beispiel: So mancher Hobby-Psychologe meint ja, einen Lügner allein aufgrund ­seiner verdächtigen Körpersprache als solchen iden­tifizieren zu können. Was sagen Sie dazu?

Mohnert: Ein klassischer Fall von Küchenpsychologie. Die meisten Menschen hegen das Bedürfnis und in der Folge die subjektive Überzeugung, ihre Mitmenschen zu durchschauen. In Wahrheit raten wir meistens nur, und das nicht mal besonders gut. Die Unterschiede von Mensch zu Mensch sind viel zu groß, als dass sich aus der Körpersprache irgendetwas ablesen ließe.

NJW: Woran würde das dann ein psychologisch geschulter Richter oder Anwalt festmachen?

Mohnert: Lügen aufzudecken ist ein hochkomplexes Geschäft, das dezidierte Kenntnisse über menschliche Wahrnehmungsfähigkeit und Gedächtnisphänomene erfordert. Darüber hinaus muss eine Aussage durch professionelle Vernehmungstechnik gewonnen werden, um überhaupt eine Basis für eine inhaltsorientierte Aussageanalyse zu bieten. Erst unter diesen ­Vorbedingungen können wir richtig in die Aussage­psychologie einsteigen. „Berufserfahrung“ kann einschlägige Schulungen in keiner Weise ersetzen, denn leider kann man jahrzehntelang fernab von wissenschaftlichen Erkenntnissen arbeiten, ohne es je zu merken. Lediglich die subjektive Überzeugung von den ­eigenen Fähigkeiten nimmt zu. Theoretisch wäre reines „learning by doing“ zwar möglich, aber nur, wenn es zeitnahe Rückmeldung darüber gäbe, ob der Richter dem Zeugen zurecht geglaubt oder nicht geglaubt hat. Diese sogenannte ground truth ist selten zu erlangen.

NJW: Inwiefern können Sachverständige mangelnde psychologische Kenntnisse der Juristen auffangen?

Mohnert: Nur bedingt. Das Gericht muss wissen, mit welchen Fragen der Sachverständige überhaupt etwas anfangen kann, sonst liegt hinterher ein nutzloses ­Gutachten vor, dessen faktische Inhalte sich für Richter ohne Psychologiekenntnisse nicht einmal richtig ­erschließen. Zudem bedarf es über das rein Juristische hinausgehender Kenntnisse, um sinnvoll entscheiden zu können, ob ein Gutachten überhaupt handwerklich sauber ist. Die korrekte Informationsauswertung da­rüber, was den Fall eigentlich ausmacht – eine urjuristische Aufgabe –, kann der Sachverständige dem Gericht sowieso nicht abnehmen.

NJW: Psychisch belastende Fälle gehören für viele ­Juristen zum beruflichen Alltag. Gibt es Mittel und Wege, um damit besser zurechtzukommen?

Mohnert: Ja, aber vor allem braucht der Einzelne die politische Schlagkraft einer Interessensgruppe. Die Justiz benötigt niedrigschwellige Supervisionsangebote mit angeleitetem kollegialem Austausch, wie sie auch für Psychotherapeuten aus denselben Gründen existieren. Meiner Ansicht nach wäre eine Ausgestaltung ohne Einschränkungen der richterlichen Unabhängigkeit möglich. Auch für die Anwaltschaft könnte es so etwas geben.

NJW: Wie müsste man denn ein derartiges Super­visionsangebot ausrichten, ohne dass die richterliche Unabhängigkeit tangiert wird?

Mohnert: Sofern ein solches Angebot kein Pflicht­programm ist, sehe ich sie in Gänze gewahrt. Die zu besprechenden Fälle und Belastungen lassen sich, wo ­nötig, unproblematisch anonymisieren. Durch die im Ideal­fall psychologisch-professionelle Anleitung und Strukturierung ließen sich neue Perspektiven und alternative Herangehensweisen für die Zukunft entwickeln. Allermindestens würden die Teilnehmer sehr schnell merken, dass sie mit ihren Sorgen und Stolpersteinen nicht allein sind, sondern es anderen ähnlich ergeht. ­Supervision verschafft zudem exzellente Lernchancen durch Rückmeldungen über die eigene Vernehmungstechnik und Beweiswürdigung in vergangenen Fällen.

NJW: Auch in der juristischen Ausbildung spielen psychische Belastungen eine große Rolle. Was empfehlen Sie Studierenden und Referendaren mit entsprechenden Problemen?

Mohnert: Vor allem: Reden Sie darüber! Viele leiden aus Scham im Stillen, weil ihnen nicht bewusst ist, dass das Problem systematisch auftritt und ihm letztendlich mit tiefgreifenden strukturellen Reformen in der Juristenausbildung begegnet werden muss.

NJW: Würden sich die von uns in diesem Interview ­diskutierten Defizite verbessern, wenn die Psychologie in der juristischen Ausbildung einen größeren Stellenwert hätte?

Mohnert: Hinsichtlich psychischer Belastung: nein. Dieses Thema spielt sich auf einer strukturellen Ebene ab, wird aber häufig durch eine individualisierende ­Betrachtung vernebelt. Es gibt einfach keinen vernünftigen Grund, Erwachsene, die freiwillig diesen Berufsweg beschreiten, emotional und intellektuell durchzuprügeln und dann noch zu beschämen, wenn sie um Hilfe bitten. Niemand kann bis zur Rente psychisch am Anschlag leben. Es ist auch nicht nötig. Was die ­Effektivität und Treffgenauigkeit juristischer Entscheidungsfindung angeht: ja. Psychologie als Grundlagenfach gehört festverankert ins Standardcurriculum an der Universität, sollte im Referendariat praxisorientiert vertieft und zum Berufsstart eine spezialisierende Schärfung erhalten.

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Interview: Dr. Monika Spiekermann.