Urteilsanalyse
Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung kann nicht von der Zustimmung der betroffenen Arbeitnehmer abhängig gemacht werden
Urteilsanalyse
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Die normative Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung kann nach einem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 28.07.2020 nicht davon abhängig gemacht werden, dass die hiervon betroffenen Arbeitnehmer dieser zustimmen.

26. Aug 2020

Anmerkung von
Rechtsanwalt  Stefan Lingemann, Gleiss Lutz, Berlin

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 33/2020 vom 20.08.2020

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Sachverhalt

Der Antragssteller ist der Betriebsrat eines Logistik- und Produktveredelungsdienstleisters. Im Jahr 2007 schloss er mit der Arbeitgeberin eine Betriebsvereinbarung über eine variable Vergütung für die Mitarbeiter im Lager. Diese Vereinbarung knüpfte inhaltlich sowohl an Anwesenheitszeiten der Arbeitnehmer als auch an leistungsorientierte Aspekte an.  

Zum Inkrafttreten der Betriebsvereinbarung wurde folgendes geregelt: 

1. Diese Betriebsvereinbarung tritt für alle Mitarbeiter mit Wirkung ab dem 01.07.2007 unter der Bedingung in Kraft, dass 80 % der abgegebenen Stimmen bis zum Ablauf der vom Unternehmen jeweils gesetzten Frist der Betriebsvereinbarung einzelvertraglich schriftlich zugestimmt haben. Hierzu erhalten die Mitarbeiter ein schriftliches Angebot des Unternehmens.

Wird diese Zustimmungsquote von 80 % unterschritten, kann das Unternehmen dies dennoch für ausreichend erklären; in diesem Fall gilt die Betriebsvereinbarung im Geschäftsjahr 2008 (01.07.2007 - 30.06.2008) nur für diejenigen Mitarbeiter, die der Geltung einzelvertraglich schriftlich zugestimmt haben. Beträgt die Zustimmungsquote mindestens 60 %, aber weniger als 80 % und hat das Unternehmen dies für ausreichend erklärt und beträgt der Zielerreichungsgrad im Geschäftsjahr 2008 mindestens 85 % im Jahresdurchschnitt, gilt die Betriebsvereinbarung ab dem 01.07.2008 für alle Mitarbeiter, ansonsten gilt sie für alle Mitarbeiter, sobald in einem Geschäftsjahr der Zielerreichungsgrad von 85 % überschritten wurde.

3. Die Betriebsvereinbarung löst in ihrem Geltungsbereich sämtliche bislang bestehenden Regelungen zur leistungs- und erfolgsbezogenen Vergütung ab.“

Das Zustimmungsquorum (von 80 %) wurde erreicht.

Der Betriebsrat beantragte die Feststellung der Nichtigkeit, hilfsweise der Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung.

Die Vorinstanzen wiesen das Begehren ab.

Entscheidung

Die Rechtsbeschwerde hatte vor dem BAG Erfolg. Der 1. Senat stellte die Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung fest.

Ihre normative Wirkung könne nicht von einem Zustimmungsquorum der Belegschaft abhängig gemacht werden. Eine solche Regelung widerspreche den Grundprinzipien der Betriebsverfassung. Danach sei der gewählte Betriebsrat Repräsentant der Belegschaft. Er werde als Organ der Betriebsverfassung im eigenen Namen kraft Amtes tätig. Daher sei er auch weder an Weisungen der Arbeitnehmer gebunden noch bedürfe sein Handeln deren Zustimmung.

Eine von ihm abgeschlossene Betriebsvereinbarung gelte kraft Gesetzes unmittelbar und zwingend. Damit gestalte sie unabhängig vom Willen oder der Kenntnis der Parteien eines Arbeitsvertrags das Arbeitsverhältnis. Insbesondere erfasse sie auch später eintretende Arbeitnehmer.

Das schließe es aus, die Geltung einer Betriebsvereinbarung an das Erreichen eines Zustimmungsquorums verbunden mit dem Abschluss einer einzelvertraglichen Vereinbarung mit dem Arbeitgeber zu knüpfen.

Praxishinweis

Die Entscheidung - bisher nur als Pressemitteilung (FD-ArbR 2020, 430925 - liegt auf der Linie des BAG, wonach der Betriebsrat nicht zugunsten Dritter auf sein Mitbestimmungsrecht verzichten kann. So ist weder zugunsten der Tarifvertragsparteien (BAG, DB 1993, 441) noch zugunsten des Arbeitgebers (BAG, AP BetrVG 1972 § 87 Arbeitszeit; Fitting, BetrVG, § 87, Rn. 578) ein solcher Verzicht wirksam.

Der 1. Senat hat nun klargestellt, dass konsequenterweise auch die Frage, ob eine Betriebsvereinbarung überhaupt wirksam wird, nicht der Entscheidung der (Mehrheit der) Arbeitnehmer überlassen werden kann. Auch der 4. Senat hat diese Autonomie der kollektiven Entscheidungsträger kürzlich in der Entscheidung vom 13.5.2020 (FD-ArbR 2020, 429537) betont, nach der die Anwendbarkeit eines Tarifvertrages nicht von dessen einzelvertraglicher Nachvollziehung abhängig gemacht werden kann.

BAG, Beschluss vom 28.07.2020 - 1 ABR 4/19 (LAG München)