Urteilsanalyse
Wirksamkeit der Kündigung eines privaten Krankenversicherungsvertrages
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Eine Pflichtverletzung des Versicherungsnehmers, die bei einem fast 35 Jahre andauernden Vertragsverhältnis zu einem Schaden des privaten Krankenversicherers von 155 EUR führt, rechtfertigt laut Oberlandesgericht Nürnberg keine außerordentliche Kündigung des Vertrages durch den Versicherer. Der Versicherer könne hier nur eine Abmahnung erklären.

8. Sep 2020

Anmerkung von
Rechtsanwalt Holger Grams, Kanzlei GRAMS Rechtsanwälte, Fachanwalt für Versicherungsrecht, München

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 17/2020 vom 20.08.2020

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VVG §§ 43178a193 III205 V 1, 206 I 1; BGB § 314 I 2

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der außerordentlichen Vertragskündigung durch den beklagten Versicherer. Der Kläger unterhält seit 1984 eine private Krankenversicherung bei der Beklagten. Seine Ehefrau als mitversicherte Person reichte über mehrere Jahre gefälschte Rechnungen zur Erstattung bei der Beklagten ein. 2013 beantragte der Kläger die Erstattung von Kosten für die Anschaffung einer Brille. Nach Leistung von 155 EUR durch den Versicherer gab der Kläger die Brille beim Optiker zurück, worüber er die Beklagte nicht informierte.

2019 erklärte der Versicherer die fristlose, außerordentliche Kündigung des gesamten Vertrages mit Ausnahme der Pflegepflichtversicherung. Das Landgericht gab der Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung bezüglich des Versicherungsschutzes für den Kläger statt. Die Kündigung sei nur bezüglich der Ehefrau wirksam. Die Berufung des Versicherers blieb in der Hauptsache erfolglos.

Rechtliche Wertung

Eine private Krankenversicherung könne grundsätzlich vom Versicherer außerordentlich gekündigt werden, so die OLG-Richter. § 206 Abs. 1 Satz 1 VVG, der für Krankheitskostenversicherungen, die die Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 VVG erfüllen, jegliches Kündigungsrecht des Versicherers ausschließt, sei teleologisch dahin zu reduzieren, dass nur die Kündigung wegen Prämienverzugs ausgeschlossen sei. Eine Kündigung wegen sonstiger schwerer Vertragsverletzungen sei unter den Voraussetzungen des § 314 BGB möglich (vgl. BGH, Urteil vom 07.12.2011 − IV ZR 50/11, r+s 2012, 35, Besprechung von Grams, FD-VersR 2012, 326870). Lediglich im Bereich der Pflegepflichtversicherung bleibe es wegen § 110 Abs. 4 SGB XI dabei, dass jegliche Kündigung des Versicherers ausgeschlossen ist (vgl. BGH, Urteil vom 07.12.2011 − IV ZR 105/11, r+s 2012, 136, Besprechung von Günther, FD-VersR 2012, 328730).

Die schwerwiegende Vertragsverletzung in einem Teilbereich der Versicherung berechtige nicht ohne weiteres zur Kündigung anderer Teilbereiche (z.B. Voit in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl., § 206 Rn. 10). Dies gelte auch für die hier vorliegende Kombination von Eigen- und Fremdversicherung im Hinblick auf die beiden versicherten Personen. Nach Treu und Glauben bestehe in den Grenzen der Zumutbarkeit die Verpflichtung, die Kündigung auf einzelne versicherte Personen zu beschränken (vgl. auch § 205 Abs. 5 Satz 1 VVG, § 14 Abs. 4 MB/KK 2009).

Dass die außerordentliche Kündigung des Vertrages bezogen auf den Versicherungsschutz der Ehefrau des Klägers berechtigt war, stehe aufgrund des insoweit nicht angegriffenen Urteils des Landgerichts rechtskräftig fest.

Hinsichtlich der vom Kläger selbst begangenen Pflichtverletzung (Nichtanzeige der Rückgabe der Brille) könne ein vorsätzliches, planmäßiges Verhalten des Klägers nicht festgestellt werden. Im Hinblick auf die Vertragsdauer von fast 35 Jahren, die Höhe des Schadens (155 EUR) und die monatliche Prämie (ca. 245 EUR) sei eine Fortsetzung des Vertrages für den Versicherer nicht unzumutbar. Daher habe der Versicherer zunächst eine Abmahnung aussprechen müssen.

Der Kläger müsse sich das Verhalten seiner Ehefrau auch nicht zurechnen lassen. Eine Zurechnung erfolge insbesondere nicht aus § 47 Abs. 1 VVG (Zurechnung des Verhaltens der versicherten Person in der Versicherung für fremde Rechnung), da es sich hier um eine kombinierte Eigen- und Fremdversicherung handle, bei der das Verhalten der mitversicherten Ehefrau nur in Bezug auf den für sie bestehenden Versicherungsschutz zugerechnet werde (vgl. BGH, Urteil vom 29.01.2003 – IV ZR 41/02, NJW-RR 2003, 600; Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl., § 47 Rn. 8). Der Versicherungsvertrag sei insofern aufzuspalten (Koch in: Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Aufl., § 47 Rn. 20; Beckmann in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl., § 47 Rn. 31).

In Bezug auf die Eigenversicherung des Klägers sei dessen Ehefrau weder Repräsentantin noch Wissenserklärungs- oder Wissensvertreterin. Eine allgemeine Wissenszurechnung finde unter Ehegatten nicht statt. Die Voraussetzungen für eine Repräsentantenstellung der Ehefrau in Bezug auf die Eigenversicherung des Klägers seien nicht erfüllt. Die Ehefrau sei insofern weder mit der Risikoverwaltung noch mit der Vertragsverwaltung betraut gewesen (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 07.12.2011 − IV ZR 50/11, r+s 2012, 35, Besprechung von Grams, FD-VersR 2012, 326870).

Praxishinweis

Das OLG führt hier instruktiv durch die Regelungen zur Kündigung privater Kranken-Pflichtversicherungen und erläutert die Besonderheiten bei kombinierten Eigen- und Fremdversicherungen sowie die Voraussetzungen der Zurechnung des Verhaltens Dritter.

OLG Nürnberg, Urteil vom 09.07.2020 - 8 U 49/20 (LG Nürnberg-Fürth), BeckRS 2020, 17866