NJW-Editorial
Wenn „Sozialrecht“ vor dem Finanzgericht landet
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Weil Kindergeld meist als Steuervergütung gewährt wird, werden die Familienkassen als Finanzbehörden tätig; der Rechtsweg führt folgerichtig zu den Finanzgerichten. Dieser Vermengung von Steuer- und Sozialrecht werden seit jeher verfassungsrechtliche, rechtssystematische und sozialpolitische Mängel attestiert.


1. Dez 2021

Der sogenannte Familienleistungsausgleich - das Nebeneinander von Kinderfreibetrag und Kindergeld - ist bekanntlich eine Chimäre: Er soll - durch Steuerfreibeträge oder durch Kindergeld - das Existenzminimum eines Kindes einschließlich des Bedarfs für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung von der Einkommensteuer freistellen. Soweit das Kindergeld für die Freistellung des Existenzminimums nicht erforderlich ist, soll es der  Zwecke erfüllen. Weil Kindergeld - wenn es nicht ausnahmsweise den Vorschriften des Bundeskindergeldgesetzes und damit dem Regime des Sozialrechts unterfällt - als Steuervergütung gewährt wird, werden die bei der Bundesagentur für Arbeit eingerichteten Familienkassen als Finanzbehörden tätig; der Rechtsweg führt folgerichtig gemäß § 33 I Nr. 1 FGO zu den Finanzgerichten. Dieser Vermengung von Steuer- und Sozialrecht werden seit jeher verfassungsrechtliche, rechtssystematische und sozialpolitische Mängel attestiert.

Im Fokus des wissenschaftlichen wie auch des rechtspolitischen Diskurses steht die Frage der materiellen Ausgestaltung kindbedingter Leistungen. Dabei wäre auch die – freilich damit zusammenhängende – Frage des Finanzrechtswegs in den Blick zu nehmen: Der aus der Konzeption des Familienleistungsausgleichs folgende Rechtsweg zu den Finanzgerichten bringt nämlich für den Rechtschutzsuchenden – nach dem derzeitigen Regelungsregime – spürbare Nachteile mit sich. Während in Angelegenheiten des Sozialrechts Beratungshilfe gewährt wird, ist das Steuerrecht aus dem Katalog der beratungshilfefähigen Angelegenheiten ausgeklammert. Da sich die Frage, ob eine Angelegenheit zu einem der in § 2 II BerHG aufgezählten Rechtsgebiete gehört, rein formal danach bestimmt, welcher Rechtsweg in dieser Angelegenheit eröffnet ist, wird in Angelegenheiten des steuerrechtlichen Kindergeldes generell keine Beratungshilfe gewährt (vgl. dazu auch BVerfG, NJW 2009, 209). Damit nicht genug: Verfahren vor den Finanzgerichten sind kostenpflichtig; sozialpolitisch motivierte Ausnahmen etwa für Leistungsempfänger existieren – im Unterschied zu sozialgerichtlichen Verfahren – nicht. Konkret: Wer sich Kindergeld für einen Monat erstreiten will, muss mit Gerichtskosten in beinahe der gleichen Höhe rechnen. Dass dies den Rechtsschutz faktisch einschränkt, liegt auf der Hand.

Gleich ob sich die Koalitionsparteien einer künftigen Regierung auf eine Neukonzeption des Familienleistungsausgleichs verständigen: Wenn es bei der Zuständigkeit der Finanzgerichte bleibt – wofür einiges sprechen könnte – , bedarf es insoweit einer Angleichung an sozialgerichtliche Verfahren.

Dr. Anke Morsch ist Präsidentin des FG des Saarlandes.