Eine Anhebung des Zuständigkeitsstreitwerts ist eigentlich längst überfällig: Dieser wurde zuletzt 1993 erhöht und 2002 lediglich auf 5.000 Euro gerundet. Kaufkraftbereinigt entspräche dies heute einer Streitwertgrenze von ca. 7.700 Euro, denn seit 1993 stiegen die Verbraucherpreise um ca. 53 %. Die Zuständigkeitsvorschriften zeigen auch sonst eine deutliche Schieflage: In Strafsachen können Amtsgerichte bis zu vier Jahre Freiheitsstrafe verhängen, in Familiensachen entscheiden sie über Zugewinnausgleichsforderungen in Millionenhöhe – nur in Zivilsachen ist bei 5.000 Euro Schluss.
Eine Anhebung der Streitwertgrenze steht aber in einem Zielkonflikt mit dem Ausbau der Spezialisierung: Einerseits soll eine bürgernahe Justiz auch „in der Fläche“ erhalten bleiben, wozu eine Erhöhung beitragen würde, weil dies den Bestand ländlicher Gerichte sichern würde. Andererseits muss die Justiz auf die zunehmende Komplexität unserer Rechtsordnung und die immer stärkere Spezialisierung der Anwaltschaft reagieren. Genau um diese Spezialisierung zu fördern, hat der Gesetzgeber seit 2018 die Landgerichte in § 72a I GVG verpflichtet, Spezialkammern für Bank-, Bau-, Arzthaftungs-, Versicherungs-, Presse-, Erb- und Insolvenzsachen zu bilden. In diesen Verfahren ist zudem originär die Kammer und nicht der Einzelrichter zuständig (§ 348 I Nr. 2 ZPO), sie sollen also nach dem Willen des Gesetzgebers durch drei Berufsrichter entschieden werden. Eine Erhöhung der Streitwertgrenze würde nun dazu führen, dass diese Spezialmaterien unterhalb des angehobenen Zuständigkeitsstreitwerts wieder aus der Zuständigkeit einer spezialisierten Kammer in die Zuständigkeit der (trotz der Möglichkeit in § 13 GVG praktisch kaum spezialisierten) Amtsgerichte fallen. Dieses Ergebnis kann kaum im Interesse des Gesetzgebers sein, weil es Sinn und Zweck der Reform aus dem Jahr 2018 und die Zielsetzung des aktuellen Koalitionsvertrags konterkarieren würde.
Allerdings ist der Streitwert ohnehin nur eine Hilfsvariable, die indirekt die Komplexität und Bedeutung eines Rechtsstreits messen soll. Diese Funktion erfüllt der Streitwert aber nur unzureichend: Eine Arzthaftungssache mit einem Streitwert von 5.100 Euro ist nicht per se komplexer und rechtlich anspruchsvoller als eine identische Streitigkeit mit einem Streitwert von 4.900 Euro. Dennoch wird sie einmal von drei Richtern einer spezialisierten Kammer und einmal von einer Generalistin am Amtsgericht entschieden. Das Vertrauen des Gesetzgebers in diese Hilfsvariable ist aber auch nicht grenzenlos, hat er sie doch selbst an einigen Stellen durchbrochen, so in §§ 23 Nr. 2 lit. a und in 71 II GVG.
Streitwertunabhängige Zuständigkeit
Eine zeitgemäße Auflösung des eingangs beschriebenen Zielkonflikts wäre es daher, den Weg der streitwertunabhängigen Zuständigkeitszuweisung an Amts- und Landgerichte weiterzugehen und die Zuständigkeit verstärkt nach anderen Variablen zu bestimmen. Wo Ortsnähe sinnvoll ist – etwa in mietrechtlichen Streitigkeiten (vgl. § 23 Nr. 1 GVG), Nachbarstreitigkeiten und Verkehrsunfallsachen – sollte sie deutlich stärker in den Vordergrund treten. Wo hingegen Sachkunde deutlich wichtiger ist, sollte diese im Mittelpunkt stehen.
Das spricht dafür, den Zuständigkeitsstreitwert in § 23 Nr. 1 GVG deutlich über den Inflationsausgleich anzuheben, gleichzeitig aber für viele Spezialgebiete aufzugeben. Unabhängig vom Streitwert den Landgerichten zugewiesen werden sollten in jedem Fall die in § 72a GVG genannten Rechtsgebiete, ggf. auch die weiteren in § 348 I Nr. 2 ZPO genannten Gebiete. Die Amtsgerichte wären dann für deutlich höhere Streitwerte zuständig, allerdings beschränkt auf die eher „allgemeinen“ Rechtsmaterien, also insbesondere das Miet-, Kauf- und Verkehrsunfallrecht. Für Spezialmaterien, die besondere Sachkunde erfordern, wären hingegen streitwertunabhängig die Landgerichte zuständig. Gerade in Spezialmaterien dürfte die Bedeutung der Ortsnähe angesichts der Möglichkeit, an einer Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung teilzunehmen (§ 128a I ZPO), ohnehin absehbar abnehmen.
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