Anmerkung von
JR Dr. Wolfgang Litzenburger
Aus beck-fachdienst Erbrecht 05/2023 vom 17.05.2023
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Sachverhalt
Der Beteiligte zu 1) ist der Sohn der Erblasserin, der Beteiligte zu 2) der Sohn des Beteiligten zu 1) (Enkel der Erblasserin). Der weitere Enkel der Erblasserin ist im Jahr 2016 kinderlos vorverstorben.
Die Erblasserin hatte mit ihrem 2015 vorverstorbenen Ehemann ein gemeinschaftliches notarielles Testament errichtet. Darin hatte der vorverstorbene Ehemann in § 1 folgende Anordnungen getroffen:
„1. Ich, …, setze
a) meinen Sohn (…) zu 40%,
b) dessen Kinder (…) zu je 15% und
c) meine Ehefrau (…) zu 30% als meine Erben ein.
2. Ich treffe folgende Teilungsanordnung:
a) Für die 40% erhält mein Sohn (…) das mir zur Hälfte gehörende Firmengrundstück (…) und die dort betriebene Einzelfirma (…).
b) Meine Ehefrau erhält für ihre 30% die ideelle Hälfte des mir gehörenden Hausgrundstücks (…) sowie die Hälfte meiner Eigentumswohnung (…).
c) Meine Enkelkinder (…) erhalten für ihre je 15% alles übrige Vermögen, insbesondere das noch vorhanden Land je zur Hälfte.“
Die Erblasserin hatte in diesem Testament in § 2 nahezu gleichlautend verfügt:
„1. Ich, …, setze
a) meinen Sohn (…) zu 40%
b) dessen Kinder (…) zu je 15% und
c) meinen Ehemann (…) zu 30% als meine Erben ein.
2. Ich treffe folgende Teilungsanordnung:
a) Für die 40% erhält mein Sohn (…) meine ideelle Hälfte an dem Firmengrundstück (…) sowie das mir allein gehöhrende Hausgrundstück (…).
b) Mein Ehemann erhält für die 30% meine ideelle Hälfte an dem Hausgrundstück (…) und meine ideelle Hälfte an der Eigentumswohnung (…).
c) Meine Enkelkinder (…) erhalten für ihre je 15% alles übrige Vermögen, insbesondere das noch vorhanden Land je zur Hälfte.“
In § 3 wurde Testamentsvollstreckung angeordnet und der Beteiligte zu 1) zum Testamentsvollstrecker ernannt. Diesem wurde zur Auflage gemacht, dass der aufgebaute Betrieb und das Betriebsgrundstück im Familienbesitz bleiben solle. In § 4 wurden für den Fall des gleichzeitigen Versterbens der Beteiligte zu 1) als Erbe zu ½ und der Beteiligte zu 2) sowie dessen Bruder als Erben zu jeweils ¼ bestimmt.
Nach dem Tod des Ehemannes errichtete die Erblasserin am 15.09.2015 ein handschriftliches Testament, in dem sie den Beteiligten zu 1) zu ihrem Alleinerben einsetzte.
Der Beteiligte zu 1) beantragte 2022 die Erteilung eines Erbscheins, der ihn als Alleinerbe ausweist.
Das Nachlassgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss den Erbscheinsantrag zurückgewiesen, weil die Erbeinsetzungen in dem gemeinschaftlichen Testament wechselbezüglich seien.
Gegen diesen Beschluss hat der Beteiligte zu 1) Beschwerde eingelegt. Das gemeinschaftliche Testament enthalte keine Schlusserbeneinsetzung, sondern lediglich wechselbezügliche Verfügungen für den ersten Erbfall.
Das Nachlassgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen, sondern das Verfahren dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt.
Entscheidung: Der Beteiligte zu 1) nicht Alleinerbe nach der Erblasserin geworden
Die Erblasserin war an die Miterbeneinsetzung des Beteiligten zu 2) im gemeinschaftlichen Testament gebunden, so dass ihre Verfügung in dem späteren Testament, soweit sie die Miterbeneinsetzung des Beteiligten zu 2) aufheben würde, entsprechend § 2289 BGB unwirksam ist.
Das gemeinschaftliche Testament enthält eine abschließende Regelung der Erbfolge nach den testierenden Ehegatten für deren beider Todesfälle und nicht lediglich eine Regelung für den Fall des Erstversterbens.
Zwar handelt es sich bei der Gestaltung der Erbfolge nicht um den Fall eines sog. „Berliner Testaments“, doch war der gemeinsame Wille erkennbar darauf gerichtet, mit dem Testament den überwiegend in hälftigem Miteigentum stehenden Grundbesitz nach dem Tod des Letztversterbenden in der Hand des Sohnes und der Enkel in Erbengemeinschaft zusammenzuführen. Hierfür spricht die Regelung in § 4 des gemeinschaftlichen Testaments, der dieses Ergebnis auch für den Fall des gleichzeitigen Versterbens vorsieht.
Dieses Ergebnis wird bei Anwendung der Erbfolgeregelung nach dem notariellen Testament herbeigeführt, unabhängig davon, welcher der Ehegatten zuerst verstirbt. Bei Tod des Erstversterbenden findet die entsprechende Erbeinsetzung uneingeschränkt Anwendung. Nach dem Tod des Zweitversterbenden richtet sich die Erbfolge nach dessen Erbeinsetzung. Da der – denknotwendig – vorverstorbene Ehegatte dann nicht mehr Erbe werden kann, wird dem jeweiligen Erblasserwillen dadurch Rechnung getragen, dass der Erbteil den übrigen Miterben anwächst.
An die Erbeinsetzung des Beteiligten zu 2) als Miterben zu 15 % war die Erblasserin nach dem Tod des Ehemannes gemäß § 2271 Abs. 2 S.1 BGB gebunden, da diese ausgehend von dem Regelungskonzept des gemeinschaftlichen Testaments bereits aufgrund individueller Auslegung als wechselbezüglich i.S.d. § 2270 Abs. 1 BGB anzusehen ist.
Nichts anderes kann dann aber bei verständiger Würdigung für die den Enkeln zugewiesenen Erbteile angenommen werden. Bei diesem Verständnis wird eine Zersplitterung der Eigentumsverhältnisse verhindert.
Aus diesem Grund ist der Beteiligte zu 2) Miterbe nach der Erblasserin zu 43% geworden, weil dieser an der Anwachsung der Erbteile seines verstorbenen Bruders und Großvaters teilnimmt. Auch an die sich aus der Anwachsung ergebende Vergrößerung des Erbteils war die Erblasserin gebunden.
Ob und in welchen Fällen ein bei Eintritt der Anwachsung sich vergrößernder Erbteil als eine auf einer wechselbezüglichen Verfügung beruhende Erbeinsetzung anzusehen ist, welche für den überlebenden Ehegatten bei einem gemeinschaftlichen Testament bindend wird, ist in der Literatur und Rechtsprechung umstritten.
Nach herrschender Meinung, der sich der Senat anschließt, wird der durch Anwachsung vergrößerte Erbteil jedenfalls dann von der Wechselbezüglichkeit erfasst, wenn diese nicht ausschließlich aufgrund des § 2094 BGB eintritt (OLG Nürnberg DNotZ 2018, 148; OLG Hamm BeckRS 2015, 3513; BeckOGK/Gierl, Stand 01.12.2022, § 2094 Rn. 43; Keim ZEV 2019, 683, 684; Litzenburger, FD-ErbR 2020, 433980).
In diesem Fall beruht die Zuweisung des Erbteils des vorverstorbenen Ehegatten nicht allein auf der gesetzlichen Regelung in § 2094 BGB, sondern auf dem in dem Testament hinreichend zum Ausdruck gebrachten Willen der Ehegatten. Hiervon ausgehend ergibt bereits die individuelle Auslegung, dass die Ehegatten für diesen Fall auch die Wechselbezüglichkeit dieser sich mit einer erhöhten Erbquote ergebenden Erbeinsetzung gewollt haben, wofür wiederum die Regelung in § 3 herangezogen werden kann.
Diesem Ergebnis steht auch die Entscheidung des OLG München vom 05.11.2020 (BeckRS 2020, 29468) nicht entgegen, da diese sich mit der – ausschließlich – auf § 2094 BGB beruhenden Anwachsung befasst.
Aber auch hinsichtlich der aufgrund des Vorversterbens des Enkels eingetretenen Anwachsung, die gemäß § 2094 Abs. 1 S.2 BGB allein dem Beteiligten zu 2) zufällt, ist eine Wechselbezüglichkeit gemäß § 2270 Abs. 2 BGB anzunehmen, so dass die Erblasserin auch insoweit nicht mehr abweichend verfügen konnte.
Das OLG München (a.a.O.) hat insoweit allerdings in Frage gestellt, ob die infolge Wegfalls eines Bedachten nach § 2094 BGB eintretende Anwachsung sich als vertragsmäßige Verfügung i.S.d. § BGB § 2278 BGB darstellt und insoweit einer Bindungswirkung unterliegen kann. Der Senat teilt diese Bedenken nicht, sondern schließt sich der Auffassung des Oberlandesgericht Nürnberg (a.a.O.) an, dass die Wirkungen der Anwachsung grundsätzlich von der Wechselbezüglichkeit umfasst sind.
Zwar trifft es zu, dass es sich beim Eintritt der Anwachsung gemäß § 2094 nicht um eine Verfügung i.S.d. § 2278 Abs. 2 BGB handelt und die Anwachsung als solche damit auch nicht wechselbezüglich im Sinne des § 2270 Abs. 1 BGB sein kann. Zutreffend ist ebenfalls, dass die Anwachsung als solche nicht angeordnet, sondern gemäß § 2094 Abs. 3 BGB nur ausgeschlossen werden kann. Doch kommt es hierauf nicht an, weil maßgeblich die Erbeinsetzung des bzw. der verbleibenden Miterben ist, hinsichtlich der die Wechselbezüglichkeit festzustellen ist. Die Anwachsung betrifft die Erhöhung des bereist zugewiesenen Erbteils, die kraft Gesetzes eintritt. Sie setzt die Einsetzung mehrerer Erben voraus und beruht damit auf einer gewillkürten Erbeinsetzung (OLG Nürnberg a.a.O., Keim a.a.O.). Dabei ist der anwachsende Erbteil als solcher rechtlich nicht selbständig. Er kann gemäß § 1950 BGB auch nicht selbständig angenommen oder ausgeschlagen werden. Der vergrößerte Erbteil wird lediglich in Ausnahmefällen als selbstständiger Teil fingiert. Hieraus kann aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass der Erbteil hinsichtlich der Frage der Wechselbezüglichkeit der Erbeinsetzung in einen unmittelbar zugewiesenen sowie in einen durch Anwachsung erhöhten Erbteil getrennt werden könnte (vgl. hierzu Keim a.a.O.).
Soweit das OLG München (a.a.O.) diesen Einwand der Einheitlichkeit des Erbteils unter Hinweis auf die begrenzte Unwirksamkeit i.S.d. § 2289 Abs. 1 S.2 BGB, die nur Teile einer letztwilligen Verfügung erfasst („soweit“), als nicht durchgreifend erachtet (Braun DNotZ 2018, 148, 155), so überzeugt dies nicht. Denn auch der Umfang der Beeinträchtigung lässt sich nur ausgehend von dem als Erbeinsetzung zu beurteilenden erhöhten Erbteil einschließlich des rechtlich gerade nicht selbstständig zu beurteilenden, angewachsenen Anteils feststellen. Macht der Erblasser nicht von der Möglichkeit Gebrauch, die Anwachsung auszuschließen oder einen Ersatzerben einzusetzen, liegt eine Erbeinsetzung vor, wie sie sich nach den gesetzlichen Regelungen, mithin unter Einbeziehung des durch Gesetz erhöhten Erbteils, ergibt. Es handelt sich daher auch nicht um zwei teilbare Erbeinsetzungen, die zu unterschiedlich zu beurteilenden Beeinträchtigungen führen.
Dann bestehen aber keine durchgreifenden Bedenken, die Bindungswirkung auch dann anzunehmen, wenn die Wechselbezüglichkeit nicht bereits aufgrund individueller Auslegung des Testaments sondern aufgrund der Auslegungsregelung in § 2270 Abs. 2 BGB zum Tragen kommt.
Diese Fallkonstellation ist auch nicht mit der vom BGH im Beschluss vom 16.01.2002 (BeckRS 2002, 1462) entschiedenen Nichtanwendbarkeit von § 2270 Abs. 2 BGB im Falle einer ausschließlich auf § 2069 BGB beruhenden Ersatzerbeinsetzung vergleichbar. Denn im Falle der Anwachsung haben die Testierenden eine die gesetzliche Erbfolge ausschließende gewillkürte Erbfolge für bestimmte Personen bereits vorgesehen. Anders als im Fall der auf § 2069 BGB gestützten Ersatzerbeneinsetzung der gesetzlichen Erben wird in diesem Fall nicht eine möglicherweise andere Person, sondern die im Testament bereits begünstigte Person geschützt.
Entgegen der Auffassung von Braun (a.a.O.) führt dies auch nicht zu Wertungswidersprüchen für den Fall, dass der vorversterbende Miterbe Abkömmlinge hat. Zwar kann dies für den Fall, dass eine Ersatzerbeneinsetzung der Abkömmlinge sich nicht im Wege der individuellen Auslegung sondern nur gestützt auf § 2069 BGB ergeben würde, dazu führen, dass hinsichtlich dieser Erbeinsetzung dann keine Wechselbezüglichkeit mehr vorliegen würde. Dann würde wegen des Vorranges der Ersatzerbeneinsetzung die Anwachsung nicht eingreifen und der überlebende Ehegatte wäre insoweit nicht mehr gebunden. Dieses Argument führt jedoch nicht zu einer anderen Betrachtungsweise. So hängt es bereits von den jeweils im konkreten Fall zu beachtenden Umständen ab, ob überhaupt ein Wertungswiderspruch vorliegen würde.
Praxishinweis
Der Wegfall eines eingesetzten Erben vor dem Erbfall ist alles andere als selten. Hat der Erblasser bzw. haben die Erblasser für diesen Fall keine vorsorgende Verfügung im Testament getroffen, so muss das Erbrecht mit Ergänzungs- und/oder Auslegungsregeln zu einem eindeutigen Ergebnis gelangen. Der Wegfall kann dabei – wie im entschiedenen Fall – der Tod eines oder mehrerer der eingesetzten Erben sein, aber auch ein Zuwendungsverzicht oder die Erbausschlagung (Vgl. Keim a.a.O.).
Ein Erblasser kann für den Wegfall entweder die Anwachsung an die verbleibenden Erben (§ 2094 BGB) oder Ersatzerben (§ 2099 BGB) bestimmen. In diesem Zusammenhang ist auch die Auslegungsregel des § 2069 BGB zu beachten, der beim Wegfall eines eingesetzten Abkömmlings dessen Abkömmlinge nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge „im Zweifel“ als Ersatzerben bestimmt. Dabei handelt es sich um typische Fragen der Testamentsauslegung, die keine spezifischen Probleme bereiten. Ein spezielles Problem tritt jedoch auf, wenn es sich bei der Verfügung von Todes wegen um ein gemeinschaftliches Testament oder einen Erbvertrag handelt, weil darin enthaltene letztwillige Verfügungen wechselbezüglich bzw. vertragsmäßig sein und den überlebenden Beteiligten in seiner Testierfreiheit einschränken können (§ 2289 BGB). Genau mit diesem Problem musste sich der Senat in dieser Entscheidung auseinandersetzen.
Zunächst hatten die Ehepartner in ihrem notariellen gemeinschaftlichen Testament sich zwar gegenseitig zu Miterben mit einer Quote von 30 % eingesetzt, dabei aber übersehen, dass sie auch regeln mussten, was mit diesem Erbteil beim zweiten Erbfall geschehen soll. Mangels einer Ersatzerbeinsetzung (§ 2099 BGB) kommt insoweit nur die Anwachsung gemäß § 2094 Abs. 1 S. 1 BGB an die übrigen Erben im Verhältnis der Erbteile in Betracht.
Weil aber auch ein Sohn des Beteiligten zu 1), also einer der beiden Enkel der Erblasserin, 2016 vorverstorben ist, stellt sich das gleiche Problem noch ein weiteres Mal: wer tritt an die Stelle dieses Enkels. Mangels der Einsetzung von Ersatzerben kommt auch hier die Ergänzungsregel des § 2094 BGB zum Zuge, allerdings, weil beide Enkel auf einen gemeinsamen Erbteil eingesetzt sind, die Regelung im 2. Satz des § 2094 Abs. 1 BGB. Danach wächst der Anteil von 15 % des vorverstorbenen Enkels der Erblasserin dessen Bruder an, nicht aber dem Vater, dem Beteiligten zu 1).
Unter Zusammenrechnung beider Anwachsungen (Bruder und Großvater) gelangt der Senat zu der Feststellung, dass der Beteiligte zu 43 % am Nachlass beteiligt wäre, wenn die Erblasserin an das gemeinschaftliche Testament im Sinne des § 2289 BGB analog gebunden wäre. Im Anschluss an die zitierte Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2002, in der dieser die kumulierte Anwendung von mehreren Auslegungsregeln, nämlich § 2069 BGB und § 2270 Abs. 2 BGB, für unzulässig erklärt hat, hat sich in Rechtsprechung und Literatur ein Streit darüber entzündet, ob die Anwachsung auf der Grundlage der Ergänzungsregel des § 2094 BGB in Verbindung mit § 2270 Abs. 2 BGB diesem Kumulationsverbot unterliegt oder nicht.
Der Senat des OLG Frankfurt hat sich mit dieser Entscheidung auf die Seite derer gestellt, die beide Sachverhalte nicht für vergleichbar halten. Die Ersatzberufung der Abkömmlinge eines weggefallenen Abkömmlings auf der Grundlage des § 2069 BGB unterscheidet sich nämlich in einem zentralen Punkt von der Ergänzungsregel des § 2094 BGB. Während bei Anwendung des § 2069 BGB die ersatzberufenen Abkömmlinge noch nicht einmal andeutungsweise in der letztwilligen Verfügung erwähnt sind, steht im Falle der Anwachsung gemäß § 2094 BGB fest, dass der Erblasser die in seiner Verfügung genannten Personen begünstigen will; offen ist allein das Verhältnis der Anteile zueinander. Die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur lehnt es daher mit Recht ab, das höchstrichterliche Kumulationsverbot auf den Fall der Anwachsung anzuwenden.
Braun (a.a.O.; BeckOGK/Braun, 15.2.2023, § 2270 Rn. 11.6) hat gegen die Wechselbezüglichkeit der Ergänzungsregel des § 2094 BGB einen Wertungswiderspruch geltend gemacht, weil § 2099 BGB den Vorrang der Ersatzerbeinsetzung gegenüber der Anwachsung postuliere und es deshalb zu folgender inkonsequenten Situation kommen könne: hinterlasse der eingesetzte Erbe eigene Abkömmlinge, so gehe die sich aus § 2069 BGB folgende Ersatzerbeinsetzung gemäß § 2099 BGB der Anwachsung (§ 2094 BGB) vor, wäre aber nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht wechselbezüglich, während im Falle der Kinderlosigkeit die Anwachsung gemäß § 2270 Abs. 2 BGB erbrechtlich bindend wäre.
Diesem Argument sind Keim (a.a.O.) und der Senat des OLG Frankfurt in dieser Entscheidung mit Recht entgegengetreten. Es genügen nämlich bereits geringste Andeutungen im gemeinschaftlichen Testament, um aufgrund einer ergänzenden Testamentsauslegung zu einer gewillkürten Ersatzberufung zu gelangen, auf die dann völlig unstreitig die Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB anzuwenden ist. Andernfalls fehlt es dagegen an jeglicher Grundlage, der Ersatzberufung auf der Basis der Auslegungsregel des § 2069 BGB wechselbezügliche Wirkung gemäß § 2270 Abs. 2 BGB beizumessen. § 2099 BGB ist dabei irrelevant, wenn es um die Frage geht, ob der einem eingesetzten Miterben angewachsene Anteil eines weggefallenen Miterben erbrechtlich bindend ist oder nicht. Es macht insoweit sehr wohl einen rechtlich relevanten Unterschied, ob der Erblasser die begünstigte Person in seiner Verfügung von Todes wegen bestimmt hat oder nicht (A.M. BeckOGK/Braun, 15.2.2023, § 2270 Rn. 11.6). Mit der Bestimmung der Person des Erben, ohne aber die Höhe des Erbteils für alle Eventualfälle des Lebens zu regeln, hat der Erblasser eine hinreichende Grundlage für die Anwendung der Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB geschaffen, während die Ersatzberufung auf der Basis des § 2069 BGB allenfalls Ausdruck einer allgemeinen Lebenserfahrung ist, deren gesellschaftliche Rechtfertigung zudem immer fragwürdiger wird. Die Benennung des Erben macht im Rahmen des § 2270 Abs. 2 BGB also den Unterschied, jedenfalls im Verhältnis der Auslegungsregel des § 2069 BGB zur dispositiven Ergänzungsregel des § 2094 BGB.
Bei optimaler Gestaltung des gemeinschaftlichen Testaments hätte dieser Rechtsstreit übrigens vermieden werden können. Bei den hier gewählten Formulierungen hätte es nahe gelegen, sowohl die Frage der Anwachsung oder Ersatzerbeinsetzung als auch die der Wechselbezüglichkeit eindeutig in der Urkunde zu klären (§ 17 Abs. 1 BeurkG).
OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 06.04.2023 - 21 W 3/23, BeckRS 2023, 8001