NJW: Seit einigen Wochen gilt die zweite Stufe des Notfallplans Gas. Kann die Bundesnetzagentur (BNetzA) bereits jetzt Gas kontingentieren, oder braucht es dafür eine gesetzliche Grundlage?
Lietz: Der Notfallplan Gas sieht grundsätzlich drei Warnstufen vor: die Frühwarn-, die Alarm- und die Notfallstufe. Bereits Ende März wurde die Frühwarnstufe ausgerufen, welche juristisch gesehen jedoch noch keine unmittelbaren Folgen hatte. Auch die zweite Stufe, die Alarmstufe, hatte bis zum Inkrafttreten der Novelle des Energiesicherungsgesetzes (EnSiG) am 22.5. dieses Jahres keine unmittelbaren Rechtsfolgen. Seither wurde aber mehrfach das Bestehen der Alarmstufe vom Gesetzgeber als Anknüpfungspunkt für Rechtspflichten gewählt. Dies sind vor allem die Preisanpassungsrechte der Gasversorger nach den §§ 24 und 26 EnSiG, die aber eben auch noch nicht unmittelbar greifen, sondern erst bei Vorliegen zusätzlicher Anforderungen, sowie das Leistungsverweigerungsrecht der Versorger nach § 27 EnSiG. Anordnungen der BNetzA, etwa gegenüber Letztverbrauchern, Lieferanten oder Netzbetreibern, den Gasbezug einer bestimmten Abnahmestelle zu reduzieren oder einzustellen oder den Energieträger Erdgas durch andere Energieträger zu substituieren, sind in der Alarmstufe allerdings noch nicht möglich. Diese Maßnahmen sind der Ausrufung der Notfallstufe durch das Bundeswirtschaftsministerium vorbehalten. Sobald wir uns dann allerdings in der Notfallstufe befinden, können unmittelbar Anordnungen durch die BNetzA oder die Länder als Lastverteiler erfolgen.
NJW: Wem wird denn, wenn uns das Gas ausgehen sollte, als erstes, wem als letztes das Gas abgestellt?
Lietz: Obwohl ja immer wieder diskutiert wird, in Privathaushalten die Temperatur zu reduzieren, ist dies nach geltender Rechtslage nicht so einfach möglich. Es gilt § 53a EnWG, nach dem sogenannte geschützte Kunden so weit es geht mit Erdgas versorgt werden müssen. Darunter fallen neben Haushaltskunden auch kleinere Gewerbebetriebe wie Friseursalons oder Anwaltskanzleien. Ebenfalls geschützt sind insbesondere „grundlegende soziale Dienste“, also Krankenhäuser, Feuerwehr oder Polizei. Der Schutz dieser Verbraucher beruht auf der europäischen SOS-Verordnung, so dass deren Schlechterstellung nur durch den Gesetzgeber und immer zuerst auch europarechtlich ansetzen müsste. Bislang kann also insoweit nur auf die freiwillige Mitwirkung der geschützten Kunden beim Einsparen von Erdgas gesetzt werden. Im Übrigen stellt es auch technisch ein Problem dar, den Gasverbrauch von Haushaltskunden kurzfristig zu reduzieren, denn entsprechende technische Einrichtungen gibt es hier in aller Regel – anders als beim Strom – nicht. Sind die geschützten Kunden ausreichend versorgt, stellt sich die Frage, wie das verbleibende Gas zwischen den nicht geschützten Kunden aufzuteilen ist. Hierfür bestehen keine ausdrücklichen Rechtsgrundlagen. Sämtliche Anordnungen der BNetzA sind jedoch Verwaltungsakte, so dass es auf eine rechtskonforme Ermessensausübung ankommen muss.
NJW: Nach welchen weiteren Kriterien entscheidet die Behörde dann über die Gasverteilung?
Lietz: Bislang hat die BNetzA noch keine feststehenden Kriterien vorgelegt, sondern nur einen Katalog von möglichen Kriterien, die aber noch modifiziert bzw. ergänzt werden sollen, genannt. Grundsätzlich kommt es darauf an, welche Auswirkungen die Reduzierung bei einem bestimmten Unternehmen hätte. Um nur einige besonders relevante zu nennen: Drohen Umwelt-, Personen- oder Anlagenschäden durch die Gasabschaltung? Stellt das Unternehmen für die Notfallversorgung der Bevölkerung wichtige Güter her? Welche Kosten entstehen durch An- und Herunterfahren? Darüber hinaus können noch viele weitere Kriterien eine Rolle spielen, was die Bildung einer entsprechenden Rangfolge im Krisenfall natürlich erheblich erschwert. Die BNetzA hat aus diesem Grund – mittlerweile auch im EnSiG verankert – eine Datenabfrage bei Großverbrauchern mit einer Anschlusskapazität von mindestens 10 MW durchgeführt. Die Daten sollen dann, sobald diese zur Verfügung stehen (voraussichtlich im Herbst 2022), in die Sicherheitplattform Gas überführt werden, die als IT-Lösung dann diese komplexen Entscheidungsprozesse automatisiert unterstützen soll. Kleinere Anschlussnehmer wurden nicht befragt. Hier hat die BNetzA angekündigt, dass deren Abschaltungen stets „ratierlich“, also für alle in einem pauschalen Umfang erfolgen sollen.
NJW: Wie können sich diejenigen, die bei der Verteilung von Gas leer ausgehen, dagegen wehren?
Lietz: Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der Entscheidung der BNetzA stets um einen Verwaltungsakt mit der Pflicht, das Ermessen rechtskonform auszuüben. Tut sie dies nicht, steht grundsätzlich die Frage im Raum, ob durch die Nichtberücksichtigung bestimmter Faktoren im Unternehmen die Entscheidung wegen fehlerhafter Ermessensausübung angreifbar ist.
NJW: Wie sieht es mit Entschädigungsansprüchen aus?
Lietz: Wir haben es hier mit einem ganzen Strauß möglicher Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche zu tun, die in verschiedenen Szenarien in Betracht kommen. Beschränken wir uns auf Anordnungen der BNetzA, so hält das EnSiG mit § 11 eine Rechtsgrundlage für eine Enteignungsentschädigung parat. Da diese noch nie zur Anwendung gekommen ist, bestehen natürlich Unsicherheiten, was letztlich damit alles ersetzt werden kann. Für Härten unterhalb der Enteignung besteht dann noch die Möglichkeit, nach § 12 EnWG einen Ausgleich zu erhalten, der aber nur die Härte ausgleichen und nicht zwangsläufig den gesamten Schaden ersetzen soll. Enteignungsentschädigung und Härteausgleich nach dem EnSiG kommen sowohl bei rechtmäßigen als auch bei rechtwidrigen Anordnungen zum Tragen. Sollte eine Anordnung zudem rechtwidrig sein, kommt ergänzend noch ein Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB in Betracht.
NJW: Lassen sich diese Ansprüche in der Praxis so einfach realisieren?
Lietz: Tatsächlich wird eine Schwierigkeit letztlich die Durchsetzbarkeit dieser Ansprüche und deren Finanzierbarkeit sein. Bei einigen Unternehmen aus unserem Mandantenkreis würde nämlich eine auch nur kurze Abschaltung mehrstellige Millionensummen an Schaden verursachen. Auch deshalb wäre der Staat meiner Ansicht nach gut beraten, die Auswahl bei Abschaltungen sorgfältig und auch – mit Blick auf die zu leistenden Entschädigungen – anhand der wirtschaftlichen Folgen für das jeweilige Unternehmen zu treffen.
NJW: Sonst droht eine Überlastung der Justiz, oder?
Lietz: Ja. Vermutlich werden die allermeisten Unternehmen bei einer Gasbezugsreduzierung, welche eine echte Existenzgefährdung darstellen kann, Rechtsschutz suchen. Das OLG Düsseldorf, dem für die Beschwerde gegen energierechtliche Verwaltungsakte der BNetzA eine Sonderzuständigkeit zukommt, dürfte auf eine solche Antragsflut nicht vorbereitet sein. Sollte es so im Worst-case-Szenario zu einem Erliegen der Rechtspflege kommen, ist ebenfalls niemandem geholfen. Auktionierungsmodelle oder Anreize für die Substituierung von Energieträgern sind daher nach meiner Einschätzung in jedem Fall vorzugswürdig gegenüber bundesweiten, potenziell rechtswidrigen Massenentscheidungen gegenüber Unternehmen.
NJW: Im Fall einer schweren Gasmangellage sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, sich gegenseitig zu unterstützen, um die Gasversorgung der besonders geschützten Kunden zu gewährleisten. Inwiefern beeinflusst diese europäische Energiesolidarität die nationalen Maßnahmen in der aktuellen Situation?
Lietz: Nach der SOS-Verordnung besteht eine grundsätzliche Solidaritätspflicht unter den Mitgliedstaaten, welche auch durch die letzten Gesetzesnovellen des deutschen Rechts bekräftigt wurde. Damit bestehen wenig Möglichkeiten, Gasexporte im Mangelfall einzustellen. Zudem ist Deutschland aber auch Nutznießer der Solidarität anderer Staaten. Was allerdings genau – juristisch und politisch – passiert, wenn einige Staaten die Solidarität entgegen der Vorgaben nicht einhalten, ist aus meiner Sicht ebenfalls ungewiss.
Seit vielen Jahren berät Dr. Franziska Lietz, LL.M., im Energie- und Umweltrecht. Mittlerweile leitet sie das Umweltrechtsteam einer auf Energie-, Klima- und Umweltrecht für energieintensive Unternehmen spezialisierten Kanzlei in Hannover und ist dort außerdem mit der Entwicklung digitaler Rechtsberatungsprodukte befasst.
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