Interview
Wann kommt die Covid-19-Schutzimpfung?
Interview
Brixius
Brixius

Im Kampf gegen Corona ruhen alle Hoffnungen auf einem schnell verfügbaren Impfstoff. Doch Entwicklung und Zulassung brauchen ihre Zeit, meint die Medizinrechtsexpertin Professor Dr. Kerstin Brixius gegenüber der NJW.

18. Aug 2020

NJW: Können Sie uns in aller Kürze das Zulassungsverfahren für einen Impfstoff erläutern?

Brixius: Impfstoffe müssen als Arzneimittel die Nachweise der Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität erbringen, um eine Zulassung zu erhalten. Die Wirksamkeit wird regelmäßig durch Ergebnisse klinischer Prüfungen der Phasen I bis III, die Unbedenklichkeit durch pharmakologische und toxikologische Versuche in Form präklinischer Prüfungen (Labor- und Tierversuche) und die Qualität durch die Ergebnisse physikalischer, chemischer und (mikro-)biologischer Versuche einschließlich deren analytischer Methoden nachgewiesen. Bei den Verfahren unterscheidet man, ob ein rein nationales Verfahren durch das Paul-Ehrlich Institut (PEI), ein Verfahren der gegenseitigen Anerkennung zum Erhalt der Zulassung für mehrere Mitgliedstaaten der EU oder – je nach Wirkstoff und Indikation optional oder zwingend – ein zentralisiertes Verfahren bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) durchzuführen ist. Auch dann wirkt das PEI als (Mit-)Berichterstatter mit, bringt seine Expertise ein.

NJW: Unterscheidet es sich vom Zulassungsverfahren für andere Medikamente, etwa Salben oder Tabletten?

Brixius: Ja, ein relevanter Unterscheid besteht beim Nachweis der Wirksamkeit, der – anders als bei den klassischen Arzneimitteln – bei Impfstoffen nur mittelbar erbracht werden kann. Bei klassischen Therapeutika wird die Wirksamkeit über einen messbaren Erfolg der Arzneimittelanwendung gezeigt, indem zB geprüft wird, ob der Blutdruck um einen definierten Wert sinkt. Beim Impfstoff ist das nicht möglich. Denn das würde bedeuten, dass man im Rahmen der Prüfung den Impfstoff verabreicht und die Probanden anschließend etwa dem Covid-19-Virus aussetzt, um den Impfschutz zu verifizieren; das ist schon ethisch nicht zulässig. Die Wirksamkeit wird daher mittelbar via Titerbestimmung gezeigt; diese misst nach Impfung die Immunität des Körpers über dessen Immunantwort, etwa die Antikörperbildung. Eine nicht zulassungs-, aber arzneimittelrechtliche Besonderheit der Impfstoffe ist das Erfordernis einer behördlichen Chargenprüfung dahingehend, ob sie der Zulassung entspricht.

NJW: BionTech und Pfizer hoffen, noch Ende des Jahres einen Corona-Impfstoff auf den Markt zu bringen. Wie berechtigt ist diese Hoffnung angesichts der Dauer des Zulassungsverfahrens?

Brixius: Es gibt Erkenntnisse aus klinischen Prüfungen der Phase I/II, nach denen ein Impfstoff-Kandidat eine gute Verträglichkeit und eine Antikörperbildung gezeigt hat. Dass bei günstigem weiteren Verlauf der Prüfungen eine Zulassung zum Jahresende vorliegt, ist durchaus realistisch. Dass eine nennenswerte Zahl an Impfdosen zur Verfügung steht und/oder bereits verimpft wurde, erwarte ich nur, wenn für die aktuell vorproduzierten Impfdosen die Zulassung genau so erteilt wird; andernfalls muss neu hergestellt werden. Das geht bei genbasierten Impfstoffen rascher, da der bei konventionellen Impfstoffen nötige Schritt der Anzucht des zu verimpfenden Virus entfällt. Aber die Mengen sind immens.

NJW: Können bei einem dringend benötigten Medikament einzelne Prüfschritte verkürzt oder ganz ausgelassen werden?

Brixius: Ja. Nach Arzneimittelrecht kann die Zulassung vorzeitig erteilt und können weitere Studien verlangt werden, soweit ein großer therapeutischer Wert zu erwarten ist und ein öffentliches Interesse am unverzüglichen Inverkehrbringen besteht. Auch die Pandemiesituation kennt das AMG: Apotheken dürften zur Behandlung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit unter definierten Bedingungen aus wirksamen, behördlich zur Verfügung gestellten Wirkstoffen Arzneimittel ohne Zulassung herstellen – aber einen wirksamen Wirkstoff gibt es hier eben noch nicht.

NJW: Wie wirkt sich dies auf eine etwaige Haftung des Herstellers und der Zulassungsbehörde(n) aus, wenn sich im Nachhinein Risiken zeigen, die bei einer ausführlicheren Prüfung erkannt worden wären?

Brixius: Grundsätzlich gilt, dass die Zulassung die zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmers unberührt lässt; er haftet gegebenenfalls im Rahmen der arzneimittelrechtlichen Gefährdungshaftung oder nach allgemeinen Grundsätzen. Bei der Impfstoffzulassung tritt die Besonderheit hinzu, dass die Zulassung nicht nur aufgrund der Prüfung der vom Hersteller eingereichten Unterlagen, sondern auch aufgrund eigener Untersuchungen und Beobachtung der Prüfungen seitens des PEI erteilt wird, § 25 VIII AMG. Auch hat das PEI umfassende Kontroll- und Überwachungsrechte, etwa im Hinblick auf zulassungsbezogene Inspektionen. Dass dies haftungsrechtlich Bedeutung erlangen kann, liegt auf der Hand; auch eine subsidiäre Staatshaftung im konkret zu verantwortenden Bereich dürfte denkbar sein. Für Impfopferschäden ist daneben aber ohnehin nach § 60 IfSGz eine Entschädigung durch die Länder vorgesehen.

NJW: Die gängigen Schutzimpfungen gelten gemeinhin als sicher. Was heißt das in absoluten Zahlen?

Brixius: Laut PEI werden jährlich 3000 bis 4000 Impfschäden berichtet. Das kann man aber auf eine Impfung gegen das Covid-19 nicht übertragen. Denn die zu impfende Patientenzahl wäre ungleich größer, und die bisherigen Daten bilden nur die konventionellen Impfmethoden ab.

NJW: Welches Nutzen-Risiko-Verhältnis wäre bei der ersten Schutzimpfung gegen Corona noch vertretbar?

Brixius: Für Impfstoffe gilt, dass nicht nur der zu impfende Patient betroffen ist, sondern gegebenenfalls ein Bevölkerungseffekt durch eine potenzielle Herdenimmunität ab Durchimpfung von vielleicht 60 –75 % der Bevölkerung begründet würde. Dieser Nutzen wiederum korrespondiert nicht unbedingt mit dem Interesse des zu Impfenden, dem Impfkrankheiten und -schäden drohen. Aber auch Risiken, die einem als positiv bewerteten Nutzen-Risiko-Verhältnis zugrunde liegen, können Impfschäden verursachen. Ein Blick in die Praxis zeigt, dass es bei der Schluckimpfung gegen Polio teils gravierende Nebenwirkungen gab, die mit einer Inzidenz von einem Betroffenem bei 2,7 Millionen Geimpften sehr selten auftraten; Europa gilt nun als frei von Polio. Bekannt, aber mit einer Inzidenz von 5 % häufiger sind die nach Masernimpfung mit dem abgeschwächten Lebendimpfstoff auftretenden Impfmasern; auch hier bleibt das Nutzen-Risiko-Verhältnis positiv.

NJW: Wie wird der Impfstoff verteilt, wenn er auf den Markt kommt?

Brixius: Auf Basis der Impfstrategie der Ständigen Impfkommission. Eine relevante Entscheidungsgrundlage bildet das in der Zulassung definierte Patientenkollektiv, denn eventuell wird die Impfung für bestimmte Personengruppen nicht zugelassen. Diese könnten zwar im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit (mit Risikoaufklärung) unter der Verantwortung des Arztes geimpft werden; ohne Impfung profitieren sie über die Immunisierungsdichte der Gesamtbevölkerung. Im Weiteren wäre die Frage der Allokation unzureichender Impfstoffmengen zu klären. Eine der für Covid-19 definierte Risikogruppe sind ältere Menschen, die oft einen erhöhten Impfstoffbedarf haben, dh es müssen mehrere Dosen verimpft werden, bis eine Immunantwort erfolgt. Die Immunisierung dieser vulnerablen Gruppe führt dazu, dass für die verbleibende Bevölkerung weniger Impfstoff verbleibt. Im Lichte des Verfassungsrechts zu bewerten ist, womit man den günstigeren Bevölkerungseffekt erzielt, mit der Impfung der jüngeren oder der vorrangigen Impfung der älteren Personengruppen.

NJW: Könnte sich ein Land vorab den Löwenanteil sichern?

Brixius: Dass die verfügbaren Impfdosen durch andere Länder aufgekauft werden, ließe sich partiell begrenzen. Zunächst einmal beinhaltet das AMG eine Belieferungspflicht, nach der Unternehmer eine bedarfsgerechte und kontinuierliche Belieferung sicherstellen müssen, die am Ende der Lieferkette dem Patienten zugutekommt; hieran möchte ich erinnern, bevor Lieferverpflichtungen eingegangen werden. Daneben plädiere ich dafür, dass Deutschland als Lehre aus dieser Krise das Ultima-ratio-Modell der Enteignung im Gesundheitswesen in Betracht zieht. Wenn wirtschaft liche Interessen die verfassungsrechtliche Solidarität ablösen, muss so an die Sozialpflichtigkeit des Eigentums erinnert werden; eine der „America-first“-Mentalität entsprechende deutsche Regelung darf es keineswegs geben. Das umgekehrte Szenario kann aber auch nicht die Lösung sein.  •

Nach der juristischen Ausbildung war Prof. Dr. Kerstin Brixius zunächst Rechtsreferentin und Datenschutzbeauftragte des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), sodann als Fachanwältin für Medizinrecht beratend in der Pharmabranche tätig. Seit Dezember 2018 lehrt sie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW und berät nebenbei weiterhin in der Pharmaindustrie. 

Interview: Monika Spiekermann.