Bemerkenswert war diese Ruhe deshalb, weil es nach Jahrzehnten des Streits gelungen war, einen als unlösbar erfahrenen Dissens vorübergehend in einen Kompromiss zu überführen. Seither macht es das Gesetz möglich, dass sich Vertreter unterschiedlichster Weltanschauungen wahlweise auf seine vordergründige Systematik (regelmäßiges Abbruchsverbot in § 218 StGB mit Ausnahmen in § 218a StGB) oder auf deren faktische Verkehrung ins Gegenteil (durch Verallgemeinerung der Ausnahmen in § 218a StGB) berufen können, um von ihrer individuell bevorzugten Lesart auf die Bestätigung der eigenen Haltung zu schlussfolgern.
Dass derweil das Bewusstsein vom rechtlichen Wert des ungeborenen Lebens und Unwert seiner Tötung einigermaßen ungebremst schwindet, ist eine vorhersehbare Konsequenz der Mehrdeutigkeit. Und nicht ohne Grund erfasst diese Entwicklung zunächst das Werbeverbot des § 219a StGB, das erstens bloßer Annex zum Abbruchsverbot ist und zweitens dieser Bewusstseinserosion entgegenwirken soll: Denn dass der Schwangerschaftsabbruch öffentlich nicht "als etwas Normales" dargestellt wird (z.B. nicht unterschiedslos zu anderen medizinischen Dienstleistungen präsentiert wird, die - anders als der Abbruch - allein die Rechtsgüter des einwilligenden Patienten betreffen), ist ein Gesetzeszweck, der zunehmend nur schwer zu vermitteln ist. Schon 2019 hatte der Gesetzgeber die Vorschrift daher eingeschränkt, so dass unter anderem Ärzte die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen unter den Voraussetzungen des § 218a I bis III StGB im Internet als Teil ihres Leistungsspektrums ausweisen können (vgl. Abs. 4 Nr. 1). Weil sich der Gesetzgeber aber nicht dazu durchringen konnte, ihnen in entsprechender Weise auch die Publikmachung weitergehender Informationen, etwa über den Ablauf des Abbruchs, anheimzustellen (vgl. Abs. 4 Nr. 2), reichte seine Kompromissbereitschaft offensichtlich nicht weit genug, um die Diskussion über das Werbeverbot so zu befrieden, wie ihm dies im Streit über das Abbruchsverbot einst noch gelungen war. Stattdessen schwelt der Konflikt und bricht sich jetzt womöglich in einer Aufhebung des § 219a StGB Bahn, infolge derer das Schutzkonzept der §§ 218 ff. StGB noch nicht einmal mehr ein Verbot anpreisender oder grob anstößiger Werbung enthielte. Wenn somit jedenfalls ein Teil der Abtreibungsgesetzgebung nicht mehr vom Mittel des Kompromisses geprägt wäre, kann man sich (auch eingedenk der Ankündigungen im Koalitionsvertrag) fragen, wie sich dies künftig für ihre weiteren Teile verhalten soll.