NJW-Editorial

Wankt der Kom­pro­miss?
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Am 17.1.2022 hat der Bun­des­jus­tiz­mi­nis­ter einen Re­fe­ren­ten­ent­wurf zur er­satz­lo­sen Strei­chung des § 219a StGB, das heißt zur Auf­he­bung des Ver­bots der Wer­bung für den Schwan­ger­schafts­ab­bruch, vor­ge­stellt. Damit öff­net sich der Vor­hang zu einem wei­te­ren Akt in der De­bat­te über Recht und Un­recht der Ab­trei­bung, in die seit den 1990 er Jah­ren eine be­mer­kens­wer­te Ruhe ein­ge­kehrt war. 

3. Feb 2022

Be­mer­kens­wert war diese Ruhe des­halb, weil es nach Jahr­zehn­ten des Streits ge­lun­gen war, einen als un­lös­bar er­fah­re­nen Dis­sens vor­über­ge­hend in einen Kom­pro­miss zu über­füh­ren. Seit­her macht es das Ge­setz mög­lich, dass sich Ver­tre­ter un­ter­schied­lichs­ter Welt­an­schau­un­gen wahl­wei­se auf seine vor­der­grün­di­ge Sys­te­ma­tik (re­gel­mä­ßi­ges Ab­bruchs­ver­bot in § 218 StGB mit Aus­nah­men in § 218a StGB) oder auf deren fak­ti­sche Ver­keh­rung ins Ge­gen­teil (durch Ver­all­ge­mei­ne­rung der Aus­nah­men in § 218a StGB) be­ru­fen kön­nen, um von ihrer in­di­vi­du­ell be­vor­zug­ten Les­art auf die Be­stä­ti­gung der ei­ge­nen Hal­tung zu schluss­fol­gern.

Dass der­weil das Be­wusst­sein vom recht­li­chen Wert des un­ge­bo­re­nen Le­bens und Un­wert sei­ner Tö­tung ei­ni­ger­ma­ßen un­ge­bremst schwin­det, ist eine vor­her­seh­ba­re Kon­se­quenz der Mehr­deu­tig­keit. Und nicht ohne Grund er­fasst diese Ent­wick­lung zu­nächst das Wer­be­ver­bot des § 219a StGB, das ers­tens blo­ßer Annex zum Ab­bruchs­ver­bot ist und zwei­tens die­ser Be­wusst­seins­ero­si­on ent­ge­gen­wir­ken soll: Denn dass der Schwan­ger­schafts­ab­bruch öf­fent­lich nicht "als etwas Nor­ma­les" dar­ge­stellt wird (z.B. nicht un­ter­schieds­los zu an­de­ren me­di­zi­ni­schen Dienst­leis­tun­gen prä­sen­tiert wird, die - an­ders als der Ab­bruch - al­lein die Rechts­gü­ter des ein­wil­li­gen­den Pa­ti­en­ten be­tref­fen), ist ein Ge­set­zes­zweck, der zu­neh­mend nur schwer zu ver­mit­teln ist. Schon 2019 hatte der Ge­setz­ge­ber die Vor­schrift daher ein­ge­schränkt, so dass unter an­de­rem Ärzte die Vor­nah­me von Schwan­ger­schafts­ab­brü­chen unter den Vor­aus­set­zun­gen des § 218a I bis III StGB im In­ter­net als Teil ihres Leis­tungs­spek­trums aus­wei­sen kön­nen (vgl. Abs. 4 Nr. 1). Weil sich der Ge­setz­ge­ber aber nicht dazu durch­rin­gen konn­te, ihnen in ent­spre­chen­der Weise auch die Pu­blik­ma­chung wei­ter­ge­hen­der In­for­ma­tio­nen, etwa über den Ab­lauf des Ab­bruchs, an­heim­zu­stel­len (vgl. Abs. 4 Nr. 2), reich­te seine Kom­pro­miss­be­reit­schaft of­fen­sicht­lich nicht weit genug, um die Dis­kus­si­on über das Wer­be­ver­bot so zu be­frie­den, wie ihm dies im Streit über das Ab­bruchs­ver­bot einst noch ge­lun­gen war. Statt­des­sen schwelt der Kon­flikt und bricht sich jetzt wo­mög­lich in einer Auf­he­bung des § 219a StGB Bahn, in­fol­ge derer das Schutz­kon­zept der §§ 218 ff. StGB noch nicht ein­mal mehr ein Ver­bot an­prei­sen­der oder grob an­stö­ßi­ger Wer­bung ent­hiel­te. Wenn somit je­den­falls ein Teil der Ab­trei­bungs­ge­setz­ge­bung nicht mehr vom Mit­tel des Kom­pro­mis­ses ge­prägt wäre, kann man sich (auch ein­ge­denk der An­kün­di­gun­gen im Ko­ali­ti­ons­ver­trag) fra­gen, wie sich dies künf­tig für ihre wei­te­ren Teile ver­hal­ten soll.

Dr. Gloria Berghäuser ist Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht,​Wirtschafts- und Medizinstrafrecht der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.