Urteilsanalyse
Vorrang eines Fristverlängerungsantrags vor dem Wiedereinsetzungsgesuch
Urteilsanalyse
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Ein Prozessbevollmächtigter, der erkennt, eine Rechtsmittelbegründungsfrist nicht einhalten zu können, muss nach der Rechtsprechung des BGH durch einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Fristverlängerung dafür Sorge tragen, dass ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht notwendig wird. Dies setzt allerdings voraus, dass die Fristverlängerung rechtlich zulässig und ein Vertrauen auf deren Bewilligung begründet ist.

29. Jul 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 15/2021 vom 23.07.2021

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Sachverhalt

Die in erster Instanz teilweise unterlegene Beklagte hat rechtzeitig Berufung eingelegt; die Berufungsbegründungsfrist ist antragsgemäß um einen Monat verlängert worden. Zwei Wochen vor Ablauf der verlängerten Begründungsfrist haben sich neue Prozessbevollmächtigte für die Beklagte bestellt und – mit Zustimmung der Klägerin – beantragt, die Berufungsbegründungsfrist um weitere 14 Tage zu verlängern, da sich der sachbearbeitende Rechtsanwalt über den Ablauf der erstmalig verlängerten Begründungsfrist in Urlaub befinde. Diesen Antrag hat das LG durch Verfügung des Berichterstatters mit der Begründung abgelehnt, zwar sei die Beklagte nicht gehindert, während des Laufs der Berufungsbegründungsfrist den Anwalt zu wechseln; sie könne allerdings keinen Anwalt beauftragen, der innerhalb dieser Frist in Urlaub gehe. Jedenfalls könne jener allein aufgrund dieser Sachlage keine erheblichen Gründe geltend machen, die eine weitere Verlängerung rechtfertigen könnten. Einen Tag nach Ablauf der erstmals verlängerten Begründungsfrist ist die von den ursprünglichen Prozessbevollmächtigten gefertigte Berufungsbegründung beim LG eingegangen. Einige Tage später hat die Beklagte wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, die Prozessbevollmächtigte habe die Berufungsbegründung am letzten Tag der Frist gegen 23:00 Uhr fertiggestellt, diese aber wegen eines unvorhersehbaren Druckerfehlers nicht ausdrucken können. Die Prozessbevollmächtigte habe daraufhin ihren Bruder um Bereitstellung eines Ersatzdruckers gebeten. Nachdem dieser aus Bielefeld in der Kanzlei in Münster um 2:45 Uhr des Folgetages eingetroffen sei, habe sie die Berufungsbegründung ausdrucken und um kurz nach 3:30 Uhr per Telefax an das Berufungsgericht übermitteln können.

Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung wegen der Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung als unzulässig verworfen (LG Leipzig BeckRS 2020, 48680). Der Antrag auf Wiedereinsetzung könne keinen Erfolg haben, da nicht hinreichend dargetan sei, dass die Beklagte beziehungsweise ihre Prozessbevollmächtigten an der Fristversäumung kein (Mit-)Verschulden treffe (§ 85 II, § 233 ZPO). Es sei zweifelhaft, ob der Vortrag hinsichtlich des fehlenden Verschuldens ihrer ursprünglichen Prozessbevollmächtigten ausreichend sei. Deren Versuch, rechtzeitig vor Fristablauf einen neuen Drucker zu beschaffen, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Vielmehr hätte es nahegelegen, wenigstens zu versuchen – notfalls handschriftlich – unter Darlegung der aufgetretenen (unvorhergesehenen) Probleme einen erneuten Fristverlängerungsantrag an das Gericht zu faxen. Dies könne indes auf sich beruhen, da die Beklagte nicht dargelegt habe, dass ihre neuen Prozessbevollmächtigten ohne Verschulden außer Stande gewesen seien, die Berufung fristgerecht zu begründen. Es könne dahinstehen, ob diese angesichts des bevorstehenden Urlaubs des sachbearbeitenden Rechtsanwalts das Mandat gar nicht hätten annehmen dürfen; jedenfalls hätte der Prozessbevollmächtigte für eine Vertretung sorgen müssen, die die Berufungsbegründung fristgerecht hätte einreichen können. Dass dies nicht möglich gewesen sei, sei nicht dargelegt. Deren Fristverlängerungsantrag sei auch nicht überraschend abgelehnt worden. Es sei nicht im Ansatz dargelegt, dass die neuen Prozessbevollmächtigten der Beklagten die Berufungsbegründung nicht fristgerecht hätten einreichen können.

Entscheidung

Der BGH hat auf die (ohne weiteres statthafte, §§ 574 I 1 Nr. 1, 522 I 4, 238 II 1 ZPO) Rechtsbeschwerde der Beklagten den Beschluss des LG aufgehoben, ihr gegen die Versäumung der Berufungsbegründungfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Ablehnung der Wiedereinsetzung halte rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Auf das vom Berufungsgericht angenommene Verschulden der neuen Prozessbevollmächtigten kam es nicht an

Soweit die Wiedereinsetzung mit der Begründung abgelehnt worden sei, die neuen Prozessbevollmächtigten der Beklagten hätten sicherstellen müssen, dass die Berufungsbegründung fristgerecht eingereicht würde, treffe dies zwar im Ausgangspunkt zu, doch komme es hierauf nicht an, da nach Ablehnung deren Fristverlängerungsantrags die ursprüngliche Prozessbevollmächtigte der Beklagten mit der Fertigung der Berufungsbegründung beauftragt worden seien.

Verschulden der ursprünglichen Prozessbevollmächtigten kann nicht mit Unterlassung eines neuerlichen Fristverlängerungsantrags begründet werden

Die Wiedereinsetzung könne auch nicht – was das Berufungsgericht offengelassen habe – wegen des Verhaltens der ursprünglichen Prozessbevollmächtigen der Beklagten abgelehnt werden. Zwar müsse ein Prozessbevollmächtigter, der erkenne, eine Rechtsmittelbegründungsfrist nicht einhalten zu können, durch einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Fristverlängerung dafür Sorge tragen, dass ein Wiedereinsetzungsgesuch nicht notwendig werde. Dies setze allerdings voraus, dass die Fristverlängerung rechtlich zulässig und ein Vertrauen auf deren Bewilligung begründet sei, woran es hier fehle, denn die Möglichkeit, die Frist zur Begründung der Berufung ohne Einwilligung des Gegners um bis zu einem Monat verlängern (§ 520 II 3 ZPO), habe die Beklagte bereits ausgeschöpft, so dass eine weitere Verlängerung daher der Einwilligung der Klägerin bedurft habe (§ 520 II 2 ZPO). Diese habe nicht vorgelegen, insbes. habe sich die Beklagte nicht auf die gegenüber den neuen Prozessbevollmächtigten erklärte Einwilligung zu einer Fristverlängerung um weitere 14 Tage berufen könne, denn diese sei im Hinblick auf einen anderen Sachverhalt erteilt worden und der hierauf gestützte Verlängerungsantrag sei bereits durch das Berufungsgericht abschlägig beschieden worden. Die Verweigerung von Wiedereinsetzung mit der Folge der Verwerfung der Berufung als unzulässig verletze daher die Beklagte in ihrem verfassungsrechtlich garantierten und aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz, so dass die Rechtsbeschwerde zulässig (§ 574 II Nr. 2 Fall 2 ZPO) und auch begründet sei.

Auch im Übrigen lag kein Verschulden der ursprünglichen Prozessbevollmächtigten vor

Hinsichtlich des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne der Senat nach § 577 V ZPO in der Sache selbst entscheiden. Die Voraussetzungen für die beantragte Wiedereinsetzung lägen vor. IÜ sei die Sache zur neuen Entscheidung gem. § 577 IV 1 ZPO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Praxishinweis

Erkennt der Rechtsanwalt kurz vor Ablauf einer Frist, dass er diese nicht wird einhalten können, hat er nicht die Wahl zwischen Fristverlängerungsantrag vor Fristablauf und Wiedereinsetzungsgesuch nach Fristablauf. Vielmehr muss der Rechtsanwalt grundsätzlich durch rechtzeitigen Fristverlängerungsantrag versuchen, dass ein Wiedereinsetzungsgesuch erst gar nicht notwendig wird. Dies gilt freilich nur, wenn eine Fristverlängerung rechtlich überhaupt möglich ist und der Rechtsanwalt auch auf ihre Bewilligung vertrauen darf. Soweit das LG im besprochenen Fall – allerdings im Ergebnis offenlassend – eine Pflicht der ursprünglichen Prozessbevollmächtigten zur unverzüglichen Stellung eines Fristverlängerungsantrags erwogen hat, hat es verkannt, dass wegen der bereits erfolgten Ausschöpfung der Möglichkeit einer Fristverlängerung ohne Einwilligung des Gegners (§ 520 II 3 ZPO) eine weitere Fristverlängerung rechtlich die Einwilligung des Gegners erforderte (§ 520 III 2 ZPO), eine solche Einwilligung aber nicht vorlag (bzw. „verbraucht" war) und auch nicht beschafft werden konnte. Ein Verschulden iSd § 233 I ZPO kann daher nicht wegen Versäumung eines Fristverlängerungsantrags bejaht werden. Soweit der BGH auch iÜ ein Verschulden verneint hat, ist dies in der Entscheidung zwar nicht weiter ausgeführt, folgt aber daraus, dass für ein Verschulden der Prozessbevollmächtigten am aufgetretenen Druckerfehler nichts ersichtlich ist und Ersatz nicht rechtzeitig zu beschaffen war (letzteres erkennt zwar auch das LG, zieht hieraus aber iErg – zu Unrecht – den gegenteiligen Schluss).

BGH, Beschluss vom 27.05.2021 - III ZB 64/20, BeckRS 2021, 16492