Die Notwendigkeit einer Wahlrechtsreform wurde meist mit der Begrenzung der Sitzzahl des Bundestags begründet. Indes ist seine Größe nur ein Symptom, nicht das Problem des Wahlrechts. Vorschläge, die „Aufblähung“ des Parlaments durch eine Reduzierung (also durch einen Neuzuschnitt) der Wahlkreise zu verhindern, wirkten daher stets nur als Flickschusterei an einem System, dessen Grundsätze kaum noch zu erkennen sind. Geradezu erlösend war deshalb der ursprüngliche Entwurf der Ampelkoalition. Er hätte ein stringentes, verständliches und auch einfaches Wahlrecht geschaffen, das zwar einen gewissen Bruch mit dem alten Wahlrecht bedeutete, nicht aber mit der Verfassung. Ermöglicht wurde dies durch das Bekenntnis zu einem konsequenten Verhältniswahlsystem bei gleichzeitiger Relativierung des Systems der Mehrheitswahl. Diese gesetzliche Klarstellung verändert zugleich den Maßstab ihrer verfassungsrechtlichen Bewertung. Selbst das mögliche Phänomen „verwaister Wahlkreise“ hätte das neue Wahlrecht nicht in die Verfassungswidrigkeit geführt.
Vor der entscheidenden Beschlussfassung wurde der Gesetzentwurf aber noch einmal geändert – über Hintergründe und Motive kann nur spekuliert werden. Statt sinnvollerweise die erste und zweite Stimme zu vertauschen und von Hauptstimme und Wahlkreisstimme zu sprechen, bleibt es bei der alten irritierenden Begrifflichkeit. Statt 598 sind nun 630 Sitze im Bundestag vorgesehen, ohne dass jedoch die Zahl der Wahlkreise erhöht würde. Vielmehr wird die Grundidee der hälftigen Teilung aufgegeben – ein Willkürakt und Schönheitsfehler, kein Verfassungsverstoß. Als verfassungsrechtliche Bruchstelle dürfte sich dagegen die kompensationslose Streichung der Grundmandatsklausel erweisen. Sie war zwar schon immer ein Fremdkörper im Wahlrecht, der rechtfertigungsbedürftig, aber auch rechtfertigungsfähig war. Doch ihre Entfernung hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Sie hätte kombiniert werden müssen wahlweise mit einer Absenkung der Sperrklausel bzw. deren Bezugnahme auf Landeslisten, der Zulassung von Ersatzstimmen oder der Ermöglichung von Listenverbindungen. Nun wird Karlsruhe über das reformierte Wahlrecht entscheiden müssen, wenn es nicht durch den Gesetzgeber selbst bis zu seinem Inkrafttreten repariert wird. Das Trauerspiel geht weiter.
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