Urteilsanalyse
Voraussetzungen eines Verbots sichtbarer religiöser Zeichen am Arbeitsplatz
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Eine Bestimmung in der Arbeitsordnung eines Unternehmens, die es Arbeitnehmern verbietet, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen durch Worte, Kleidung oder auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen, stellt laut EuGH keine unmittelbare Diskriminierung "wegen der Religion oder der Weltanschauung" i.S.v. Art. 2 II Buchst. a der RL 2000/78 dar, wenn diese Bestimmung allgemein und unterschiedslos angewandt wird. Eine dadurch entstehende mittelbare Benachteiligung könne unter Umständen durch eine Neutralitätspolitik des Unternehmens gerechtfertigt sein.

7. Nov 2022

Anmerkung von
RAin Dr. Tanja Rudnik, Gleiss Lutz, Düsseldorf

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 43/2022 vom 03.11.2022

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Sachverhalt

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hatte sich bei einer Genossenschaft zur Vermietung und Verwaltung von Sozialwohnungen um ein unbezahltes sechswöchiges Praktikum beworben. Nach einer Neutralitätsregel in der Arbeitsordnung des Unternehmens waren Arbeitnehmer verpflichtet, „ihre religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen […] weder durch Worte noch durch die Kleidung oder auf andere Weise, zum Ausdruck [zu] bringen“. Im Vorstellungsgespräch erklärte die Klägerin auf Nachfrage, sie werde ihr islamisches Kopftuch am Arbeitsplatz nicht ablegen. Deshalb wurde ihre Bewerbung nicht berücksichtigt. Auch ihren Vorschlag, eine andere Art der Kopfbedeckung zu tragen, lehnte das Unternehmen ab.

Das daraufhin angerufene Arbeitsgericht bat den EuGH um Vorabentscheidung der Frage, ob religiöse, weltanschauliche und politische Überzeugungen ein einheitliches geschütztes Merkmal seien mit der Folge, dass Personen mit anderen als religiösen Überzeugungen nicht als Vergleichsgruppe zur Feststellung einer unmittelbaren Diskriminierung wegen der Religion dienen könnten. Zweitens sollte der EuGH beantworten, ob nationale Vorschriften, die religiöse, weltanschauliche und politische Überzeugungen jeweils getrennt schützen, um diesen Schutz durch Hervorhebung der jeweiligen Besonderheiten zu verstärken, als günstigere Vorschriften nach Art. 8 I der RL 2000/78 gelten. Drittens fragte das Gericht, ob eine allgemeine Neutralitätsregel eine unmittelbare Diskriminierung sein könne, wenn sie dazu führt, dass eine Arbeitnehmerin, die ihre Religionsfreiheit durch das sichtbare Tragen eines Kopftuchs ausüben möchte, weniger günstig behandelt wird als Angehörige bestimmter Vergleichsgruppen.

Entscheidung

Der EuGH hält daran fest, dass Religion und Weltanschauung zwei Seiten ein und desselben Diskriminierungsgrundes seien. Dieser umfasse religiöse, weltanschauliche und spirituelle Überzeugungen, sei allerdings von politischen und sonstigen Anschauungen zu unterscheiden. Allerdings müssten Vergleichsgruppen nicht jeweils alle Arbeitnehmer umfassen, bei denen ein bestimmtes Merkmal nach Art. 1 der RL 2000/78 vorliege.

Der Wertungsspielraum der Mitgliedsstaaten bei der Einführung oder Beibehaltung günstigerer Vorschriften umfasse keine Abweichung von der Auslegung des Begriffspaars der Religion oder Weltanschauung als einheitlicher Diskriminierungsgrund. Andernfalls würden Wortlaut, Kontext und Zweck dieses Grundes in Frage gestellt und die praktische Wirksamkeit des allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf beeinträchtigt.

Unter Hinweis auf die Urteile Bougnaoui und WABE und MH Müller Handel bestätigt der EuGH, eine unternehmensinterne Regel könne eine unmittelbare Diskriminierung darstellen, wenn sie nur das Tragen großflächiger religiöser Symbole verbiete. Ein allgemein und unterschiedslos angewandtes Verbot sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz könne allenfalls eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Diskriminierung sein, wenn sie dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden.

Praxishinweis

Der EuGH führt seine Rechtsprechung fort, nach der eine allgemeine Neutralitätsregel als mittelbare Benachteiligung gerechtfertigt werden kann. Das dazu erforderliche rechtmäßige Ziel kann der Wille eines Arbeitgebers sein, im Verhältnis zu öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen. Das setzt ein wirkliches, nachgewiesenes Bedürfnis nach einer solchen Neutralitätspolitik voraus. Ob der Religionsfreiheit bei der Interessenabwägung zur Beurteilung der Angemessenheit der Neutralitätsregel eine größere Bedeutung beizumessen ist als der unternehmerischen Freiheit, richtet sich nach den Wertungen des nationalen Rechts.


EuGH, Urteil vom 13.10.2022 - C-344/20 (Tribunal du travail francophone de Bruxelles), BeckRS 2022, 27254