Anmerkung von
Richter am Kammergericht Dr. Oliver Elzer, Berlin
Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 21/2022 vom 21.10.2022
Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Zivilverfahrensrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Zivilverfahrensrecht beinhaltet er eine ergänzende Leitsatzübersicht. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Zivilverfahrensrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de
Sachverhalt
K kündigt wegen Eigenbedarfs. B widerspricht der Kündigung und beruft sich unter Vorlage eines ärztlichen Attests auf das Vorliegen von Härtegründen (§ 574 Abs. 1 S. 1 BGB). Sie behauptet, sie leide ua an fortschreitender Multipler Sklerose. Ein Umzug sei ihr nicht zuzumuten, weil er zu einer Verschlimmerung des Krankheitsbilds führe. Das AG holt ein Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie ein. Der Facharzt führt aus, zur konkreten Prognose der Multiplen Sklerose könne er keine ausreichende fachliche Einschätzung treffen.
Das AG gibt der auf Räumung und Herausgabe der Wohnung gerichteten Klage unter Gewährung einer Räumungsfrist statt. Die hiergegen gerichtete Berufung weist das LG – unter Gewährung einer weiteren Räumungsfrist – zurück. B könne nicht die Fortsetzung des Mietvertrages wegen eines Härtegrundes verlangen. Die Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens im Hinblick auf ihre Erkrankung an Multipler Sklerose sei nicht erforderlich. B habe vorgetragen, dass sie insbes. Beeinträchtigungen beim Gehen habe, so dass sie auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen sei. Die beschriebene Beeinträchtigung der Gehfähigkeit begründe aber keinen Härtefall. Vielmehr könne diesem Umstand, der als wahr zu unterstellen sei, im Rahmen der Bemessung einer Räumungsfrist Rechnung getragen werden. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der B.
Entscheidung: Das LG hat den Anspruch der B auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt
Das LG habe das Vorliegen einer Härte (§ 574 Abs. 1 S. 1 BGB) nicht verneinen dürfen, ohne das (angebotene) neurologische Sachverständigengutachten zu dem behaupteten Beschwerdebild sowie zu den gesundheitlichen Auswirkungen eines erzwungenen Umzuges für B zu erheben. Mache der Mieter für den Fall eines erzwungenen Wohnungswechsels substanziiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, hätten sich die Tatsacheninstanzen – beim Fehlen eigener Sachkunde – regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden seien, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen würden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten könne.
Hiernach habe es das LG nicht bei dem erstinstanzlich eingeholten Sachverständigengutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie bewenden lassen dürfen. Denn der Sachverständige habe in seinem Gutachten ausgeführt, zur konkreten Prognose der Multiplen Sklerose keine ausreichende fachliche Einschätzung treffen zu können. Bei seiner Unterstellung als „wahr“ habe das LG verkannt, dass es zu den Voraussetzungen einer zulässigen Wahrunterstellung gehöre, die Behauptung der Partei so zu übernehmen, wie diese sie aufgestellt habe. Dies bedinge bei abwägungsrelevanten Umständen, dass sie grds. mit dem ihnen vom Behauptenden beigelegten Gewicht als wahr zu unterstellen seien (Hinweis ua auf BGH NJW 2017, 1474 Rn. 26 = FD-ZVR 2017, 389267 mAnm Elzer).
Praxishinweis
Ein Beweisantrag kann im Zivilverfahren entsprechend § 244 Abs. 3 StPO abgelehnt werden, also dann, wenn die unter Beweis gestellte Tatsache unerheblich, bereits erwiesen oder offenkundig ist, wenn das Beweismittel unzulässig, unerreichbar oder völlig ungeeignet ist oder wenn die behauptete Tatsache als wahr unterstellt wird (BGH BeckRS 2015, 17442 Rn. 7). Die Wahrunterstellung ist ein Unterfall der Unerheblichkeit. Wenn die fragliche Tatsache als wahr unterstellt werden kann, ohne dass sich das Ergebnis ändert, kommt es auf sie nicht an.
Voraussetzung einer Wahrunterstellung ist, dass die Behauptung so übernommen wird, wie die Partei sie aufgestellt hat (BGH NJW-RR 2017, 75 Rn. 15 mAnm Elzer FD-ZVR 2016, 384433; BGH NJW-RR 2017, 72 Rn. 12 mAnm Elzer FD-ZVR 2016, 381986; BGH BeckRS 2015, 17442 Rn. 8). Die Entscheidung erinnert daran, dass abwägungsrelevante Umstände mit dem Gewicht zu unterstellen sind, welches ihnen der Behauptende beigelegt. Hieraus folgt wohl, dass das Gericht auch Schlussfolgerungen, die der Behauptende an eine Behauptung knüpft, übernehmen muss, wenn es die Behauptung als wahr unterstellt (zuvor BGH ZEV 2019, 281 Rn. 10 und BGH NZM 2017, 23 Rn. 15 = FD-ZVR 2016, 384433 mAnm Elzer).
BGH, Urteil vom 11.08.2022 - VII ZR 429/21, BeckRS 2022, 25216