Von Schirach bringt seine Prominenz als Bestsellerautor ein, hat eine beachtliche Zahl bekannter Förderer, darunter renommierte Juristinnen und Juristen, um sich geschart und ist dank einer perfekt orchestrierten Medienkampagne gerade auf allen Kanälen. Und wer würde seinem Befund widersprechen, dass die Grundrechtecharta die fundamentalen Herausforderungen unserer Zeit – Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung – nicht hinreichend abbildet? Und dass die als abstraktes politisches Gebilde mit einer allmächtigen technokratischen Exekutiv-Maschinerie empfundene EU dringend mehr Partizipation und Identifikation ihrer Bürgerinnen und Bürger gebrauchen könnte?
Über die einzelnen Grundrechte – jeder Mensch soll das Recht haben auf eine gesunde und geschützte Umwelt, auf digitale Selbstbestimmung, auf transparente und faire Algorithmen, auf wahrheitsgemäße Äußerungen von Amtsträgern sowie auf die Wahrung der Menschenrechte in der globalisierten Wirtschaft – lässt sich natürlich trefflich streiten, vor allem wenn „jeder Mensch“ mit ihnen Interessen der Allgemeinheit durchsetzen soll wie beim Recht gegen Fake-News oder dem auf eine menschenrechtsgerechte Lieferkette. Aber Diskussion ist ja ein Ziel des Projekts. Insgesamt gefallen die klar und verständlich formulierten Vorschläge, deren Überzeugungskraft tatsächlich auch in ihrer utopischen Naivität liegt, wie von Schirach schreibt. Das haben nicht nur die amerikanischen und französischen Revolutionserklärungen gezeigt, die sich von Schirach etwas vermessen zum Vorbild nimmt, sondern auch die an die Spitze des Grundrechtskatalogs unserer Verfassung gestellten Menschenrechte. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde oder der Gleichheitssatz waren in der Geburtsstunde des Grundgesetzes ebenfalls Utopien. Sie wurden ein großer Erfolg, auch weil sie einfach formuliert und kurz sind. Und weil es – wie bei der vorgeschlagenen Grundrechtsklage zum EuGH – mit der Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit für „jedermann“ gibt, sie durchzusetzen.
Leider wäre von Schirach nicht von Schirach, wenn er nicht auch hier wieder manchen Abwehrreflex provozieren würde. Der frühere Strafverteidiger hat so viel Pathos in sein schmales Büchlein gepackt, dass es auch den wohlwollenden Leser und Unterstützer seines Anliegens ziemlich nervt. Aber wenn aus seiner Initiative tatsächlich eine europäische Bürgerrechtsbewegung erwachsen sollte, sei ihm das gerne nachgesehen.