Interview
Virtuelle Aktionärstreffen
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privat

Wegen Corona hat die Politik vorübergehend die Möglichkeit zu rein virtuellen Hauptversammlungen geschaffen. Die Aktionärstreffen gehen nun oft schneller vonstatten, doch die Teilnahmequote der Anteilseigner ist sogar eher gestiegen. Einen Schaden für die „Aktionärsdemokratie“ sieht Rechtsanwalt Prof. Dr. Hans-Ulrich Wilsing nicht – und befürwortet weitere Handlungsspielräume.

13. Jul 2020

NJW: Wie sind die bisherigen Erfahrungen?

Wilsing: Der Gesetzgeber hat innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums ein praktisch gut handhabbares Gesetz erschaffen. Die bisherigen Erfahrungen sind überwiegend positiv. Fast alle Unternehmen haben sich für die gesetzlich ermöglichte Variante der nicht interaktiven virtuellen Hauptversammlung (HV) entschieden, bei der die Aktionäre aufgefordert werden, ihre Fragen bis zwei Tage vor der HV per E-Mail einzureichen. Wenn ich es richtig überblicke, haben dagegen bislang nur sehr wenige Gesellschaften eine echte interaktive virtuelle HV abgehalten, in der die Aktionäre während der laufenden Versammlung Fragen per E-Mail einreichen können und der Vorstand bzw. Aufsichtsratsvorsitzende diese dann beantwortet.

NJW: Wie läuft das ab?

Wilsing: Viele Unternehmen, vor allen Dingen Dax-Gesellschaften, haben neben der Möglichkeit, Fragen vorab per E-Mail einzureichen, ihren Aktionären die darüber hinaus gehende Möglichkeit eröffnet, Redebeiträge und auch Gegenanträge einzureichen, die für alle Aktionäre zugänglich vom Unternehmen veröffentlicht werden. Die nach dem Covid-19-Gesetz technisch in der HV nicht zu behandelnden Gegenanträge werden dadurch – ebenso wie die Redebeiträge – den Aktionären vorher zugänglich gemacht und können so in deren Abstimmungsentscheidung einfließen. Einzelne Unternehmen haben – darüber hinaus gehend – die Vorstands- und Aufsichtsratsreden vorab veröffentlicht und während der laufenden virtuellen HV ermöglicht, über eine Chatfunktion Fragen zu stellen und Anmerkungen zu übermitteln. Durch diese über das Gesetz hinausgehenden Angebote und Kommunikationsmöglichkeiten wird eine Art Ersatzdialog mit den Aktionären geschaffen.

NJW: Welche Schwierigkeiten haben sich ergeben, etwa mit der Technik? Steigen dadurch die Anfechtungsrisiken?

Wilsing: Erfreulicherweise haben sich bei den von uns begleiteten virtuellen HVs bisher kaum technische Schwierigkeiten ergeben, die Einfluss auf den ordnungsgemäßen Ablauf hatten. Noch liegen sehr wenige Anfechtungsklagen vor. Man wird abwarten müssen, ob – trotz des gesetzlich weitgehend ausgeschlossenen Anfechtungsrechts wegen technischer Schwierigkeiten – solche Fälle erfolgreich zum Gegenstand von Anfechtungsklagen gemacht werden.

NJW: Welche Vorteile hat die virtuelle HV? Gibt es etwa weniger quälend lange Veranstaltungen, weniger Showauftritte von aktivistischen Aktionären oder Berufsklägern?

Wilsing: Aus Sicht der Verwaltungen hat die virtuelle HV den Vorteil, dass trotz der bestehenden gesetzlichen Einschränkungen bei der Durchführung von Präsenz-HVs insbesondere wichtige Strukturmaßnahmen zeitgerecht beschlossen und Dividenden termingerecht ausgeschüttet werden können. Bei den von uns begleiteten virtuellen Aktionärstreffen hatten wir in keinem Fall den Eindruck, dass die Verwaltung quasi unter dem Deckmantel der Notstandsgesetzgebung dem Dialog mit ihren Anteilseignern ausweicht bzw. die gesetzlich eingeschränkten Frage- und Anfechtungsmöglichkeiten ausnutzt, um schwierige Tagesordnungspunkte durchzudrücken. Die durchschnittliche Dauer von virtuellen HVs liegt unter der durchschnittlichen Dauer von Präsenzveranstaltungen, wobei es einige Fälle bei Dax-30-­Gesellschaften gab, die zeitlich mehr oder weniger genauso lange dauerten wie die letzten Präsenz-HVs. Mangels direkten Dialogs mit den Anteilseignern und mangels einer Möglichkeit, in der Versammlung nachzufragen, ist der „Unterhaltungswert“ sicher reduziert; das muss man nicht unbedingt bedauern.

NJW: Wie gehen die Aktionäre mit den neuen Gegebenheiten um?

Wilsing: Die durchschnittliche Präsenz der Anteilseigner liegt eher über jener bei physischen Versammlungen. Die Zahl der Fragen liegt im Durchschnitt nicht substantiell unter jener in Präsenz-HVs. Rhetorisch zugespitzte und unsachliche Fragen ergeben sich dort oft spontan am Rednerpult; diese „Bühne“ entfällt bei der virtuellen HV, was zu einer Versachlichung der Debatte führt.

NJW: Wie hat sich die Rolle der anwaltlichen Berater geändert? Erledigen Sie jetzt alles in einem reinen digitalen Backoffice, bequem vom eigenen Schreibtisch aus?

Wilsing: Die Arbeit der anwaltlichen Berater verlagert sich auf das Vorfeld, vor allen Dingen die letzten 48 Stunden vor dem Versammlungstermin. Erfahrungsgemäß reichen viele Aktionäre ihre Fragen erst kurz vor Ablauf der Zwei-Tages-Frist ein. Unserer Einschätzung nach geschieht dies überwiegend nicht deshalb, um die Gesellschaften bei der Beantwortung absichtlich in Zeitnot zu bringen, sondern eher vor dem Hintergrund, die Fragen auf einer möglichst „frischen“ Nachrichtenlage aufzubauen. Während der laufenden virtuellen HV selbst hat der anwaltliche Berater dann eine nur sehr eingeschränkte Funktion.

NJW: Welche Besonderheiten ergeben sich für Notare?

Wilsing: Der Notar muss auch dort zwingend vor Ort anwesend sein. Wie bei der Präsenz-HV wird er sich im Vorhinein mit den technischen Besonderheiten und der spezifischen Umsetzung im jeweiligen Unternehmen vertraut machen. Ansonsten ergeben sich für den Notar keine Besonderheiten.

NJW: Anlegerschützer fürchten um die „Aktionärsdemokratie“. Zu Recht?

Wilsing: Alle Anlegerschützer und institutionellen Investoren erkennen an, dass die gesetzlichen Einschränkungen bei der Abhaltung physischer Versammlungen es erfordern, die Aktionärsrechte notstandsbedingt einzuschränken. Der Gesetzgeber erlaubt zwar die Möglichkeit, diese Einschränkung über 2020 hinaus auf 2021 auszudehnen. Nach gegenwärtiger Einschätzung halte ich das jedoch für nicht wahrscheinlich. Bemängelt wird seitens der Anlegerschützer in erster Linie die fehlende Möglichkeit des interaktiven Dialogs. Doch auch bei großen Präsenz-HVs besteht nur in wenigen Fällen die Möglichkeit zu einer Nachfrage.

NJW:Wenn die Pandemie hoffentlich bald vorbei ist – sollte die Politik dauerhafte Lehren aus den jetzigen Erfahrungen für Reformen im Aktienrecht ziehen?

Wilsing: Die bisherigen Erfahrungen sind überwiegend positiv. Die Unternehmen gehen nach unserer Beobachtung sehr verantwortungsvoll mit den ihnen gesetzlich eingeräumten erweiterten Ermessensspielräumen um. Die virtuelle HV erreicht im Schnitt mehr Aktionäre als die Präsenz-HV; das gilt vor allem auch für ausländische Investoren. Das belebt den Dialog zwischen Verwaltung und Aktionären und gibt dem Unternehmen die Möglichkeit weiterreichender Kommunikation. Es wäre daher wünschenswert, aufbauend auf den Erfahrungen aus der „Corona-HV-Saison 2020“ auszuloten, ob nicht über die bislang schon gesetzlich eröffneten Ansätze hinaus den Gesellschaften erweiterte Handlungsspielräume eingeräumt werden sollten. Das wird allerdings nach meiner persönlichen Einschätzung nur dann gelingen, wenn zugleich dem bislang möglichen Missbrauch des Fragerechts bei einer echten interaktiven Hauptversammlung – etwa durch die Übersendung von 300 weiteren Fragen per E-Mail kurz vor Schluss der Rednerliste – entgegengewirkt wird. Eine weitere Öffnung hin zu einer virtuellen Hauptversammlung außerhalb des Corona-Notstandsrechts muss daher Hand in Hand gehen mit einer sinnvollen Einschränkung des Anfechtungsrechts, ohne dass hierdurch die Kontrollfunktion des Beschlussmängelrechts ausgehöhlt wird.

Interview: Prof. Dr, Joachim Jahn.