NJW-Editorial
Video killed the Presence Star
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Videoverhandlungen im Zivilprozess können seit 2002 auf Antrag oder von Amts ­wegen abgehalten werden. Bis zum Ausbruch der Pandemie handelte es sich dabei dennoch um ein mehr oder weniger unbekanntes Format. Doch trotz des unverhofften „Auftriebs“ der Norm blieb die große Transformation des deutschen Zivilprozesses aus. Der neue Regierungsentwurf soll nun der Durchbruch sein und der Videoverhandlung neues Leben einhauchen. Ich fürchte: Das wird wieder nichts!

27. Sep 2023

Der Regierungsentwurf stellt die Anordnung der Videoverhandlung grundsätzlich in das Ermessen des Gerichts – eine unübersichtliche Norm, die zu viele Schlupflöcher („kann“, „soll“) und Ausnahmeregelungen beinhaltet. Ein Umdenken an den Gerichten und einen Meilenstein für die Justizdigitalisierung erreichen wir nur, wenn wir auch wirklich umdenken. Ich schlage vor, das Regel-Ausnahme-Prinzip umzukehren und die Videoverhandlung zur Regel und die Präsenzverhandlung zur Ausnahme zu machen. Eine Präsenzverhandlung ist gerichtlich nur anzuordnen, wenn es für die Aufklärung des Sachverhalts tatsächlich geboten ist. Dies ist insbesondere bei Zeugenvernehmungen, Urkundsbeweisen und Ortsterminen der Fall. Das Gericht entscheidet also über die Verfahrensform im Sinne der bestmöglichsten und effizientesten Variante. Die Idee, Parteien nur in Ausnahmefällen in das Gericht zu zitieren, ist ja nicht neu: Das per­sönliche Erscheinen nach § 141 ZPO wird nur angeordnet, wenn die Aufklärung des Sachverhalts dies gebietet. Nach meinem Vorschlag ist die gerichtliche Entscheidung sodann unanfechtbar. Um die Verfahren zu beschleunigen und nicht durch prozesstaktische Anfechtungen aufzuhalten, kann eine unterbliebene oder erfolgte Anordnung der Präsenzverhandlung erst im Revisionsverfahren als Revisionsgrund gerügt werden, wenn dadurch die Beweisaufnahme fehlerhaft war.

Wir wollen den Zivilprozess ins 21. Jahrhundert holen, wir wollen ihn vereinfachen und beschleunigen. Eine gut gemachte Digitalisierung kann dies, sie kann sogar die Qualität steigern und Zugang zur Justiz in der Fläche verbessern. Der Glaube, dass eine Präsenzverhandlung den Ansprüchen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Rechtsfindung am besten gerecht wird, ist in vielen Fällen schlichtweg falsch. Perspektivisch muss es unser Ziel sein, Gerichtsprozesse medienbruchfrei vollständig zu digitalisieren. Von der elektronischen Klageeinreichung per App, über digitale Urkunden, die das Gericht selbst generiert und jederzeit abrufbar hält, bis zur digitalen Mandanten- bzw. Bürgerkommunikation. Denn wir müssen uns doch fragen, wie wir die Menschen erreichen und mehr Vertrauen in den Rechtsstaat schaffen. Wenn wir nicht wollen, dass Zivilstreitigkeiten von PayPal oder Ebay gelöst werden, dann müssen wir Justiz konsequent bürgerorientiert denken. Vergessen wir also den Ansatz aus 2002 und geben wir der Videoverhandlung den Rang, den sie verdient.

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Dr. Till Steffen, MdB, ist Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und ehemaliger Justizsenator von Hamburg.