NJW: Microsoft will für fast 70 Mrd. Euro den Videospielanbieter Activision Blizzard kaufen. Gibt es kartellrechtliche Bedenken gegen den Mega-Deal?
Künstner: Nach Medienberichten wird die Federal Trade Commission (FTC), die US-amerikanische Wettbewerbsbehörde, die Übernahme kartellrechtlich prüfen. Wie das ausgeht, ist aus meiner Sicht ganz offen, zumal es dort gerade im Kartellrecht interessante Umbrüche gibt.
NJW: Welche?
Künstner: In den Vereinigten Staaten hatte sich seit Ende der 1970er/Anfang der 1980 er Jahre die sogenannte Chicago-School durchgesetzt, die im Grunde einer Nichtanwendung des Kartellrechts das Wort geredet hat – mit der Folge, dass es kaum noch Fälle gab. Jetzt finden zunehmend progressive Kartellrechtler und Ökonomen, von ihren Widersachern etwas abwertend als Hipster-Antitrusts bezeichnet, Gehör. Sie selbst bezeichnen sich unter Bezug auf den früheren Supreme-Court-Richter Louis Brandeis als New-Brandeis-School. Sie kritisieren die Machtkonzentration bei den großen Internetkonzernen sehr scharf und argumentieren nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich, indem sie auf die Gefahren für die Demokratie hinweisen. Die neue Chefin der FTC, Lina Khan, wird dieser Strömung zugerechnet. Viele erwarten von ihr und der Biden-Administration, dass sich die Fusionskontrolle deutlich verschärft.
NJW: Sie haben die Fusionskontrolle kürzlich öffentlich als „ungenügend“ bezeichnet. Können Sie das näher ausführen?
Künstner: Eine wirksame Fusionskontrolle müsste durch Normgebung und Aufsicht so ausgestaltet sein, dass an bestimmte Deals gar nicht gedacht wird. Bei Activision Blizzard hätte Microsoft eigentlich sagen müssen: Chancenlos, die Fusion melden wir gar nicht erst an. Sie machen es aber, weil solche Übernahmen lange Zeit durchgegangen sind, oft sogar ohne Auflagen. Und das beziehe ich nicht nur auf die USA, sondern gleichermaßen auch auf Europa und Deutschland.
NJW: Hat das seinen Grund eher in zurückhaltenden Wettbewerbsbehörden oder in nachlässigen Gesetzen?
Künstner: Beides. Die Gesetze sind so gestaltet, dass sie auch bei wettbewerbspolitisch fragwürdigen Fusionen mit einer fein ziselierten juristischen Argumentation bei den Gerichten durchdringen können. Und weil die Kartellbehörden das wissen, winken sie manche Transaktionen lieber durch, als sich auf einen jahrelangen Rechtsstreit einzulassen. Da würde man sich schon mehr Mut der Beamten wünschen. Andererseits: Wenn das Kartellrecht etwas, das wettbewerbspolitisch nicht gewollt ist, letztlich ermöglicht, hat die Fusionskontrolle offensichtlich auch normative Schwächen.
NJW: Beim Bundeskartellamt hat man aber den Eindruck, dass es sich fast nur noch mit den Netzgiganten befasst. Zurückhaltend wirkt das jedenfalls nicht?
Künstner: Das BKartA ist bei BigTech tatsächlich sehr progressiv. Es bekommt auch Rückenwind vom Kartellsenat des BGH, der die Entscheidungen des Amtes in der Regel hält – oft gegen das OLG Düsseldorf in der Vorinstanz. Aber auch dem Bundeskartellamt fehlen mitunter die nötigen Instrumente. Das hat der Präsident zuletzt in Bezug auf die Übernahme von Kustomer durch Meta (Facebook) auch nochmals deutlich gemacht, was ich als klares Signal an die Politik deute, dass man bei diesem Deal gerne etwas unternommen hätte, aber nicht konnte.
NJW: Warum scheint das Kartellrecht denn in diesem Segment weniger leistungsfähig als in anderen Bereichen?
Künstner: Das lässt sich anhand der Fusionskontrolle recht einfach erklären: Sie soll Marktbeherrschung verhindern. Als sie geschaffen wurde, war die Welt noch eine andere. Sie hatte Transaktionen im Blick, bei denen etwa der größte Baukonzern den zweitgrößten übernehmen wollte, also direkte Wettbewerber auf horizontaler Ebene beteiligt waren. Da funktioniert die Fusionskontrolle auch noch einigermaßen. Die wenigen Untersagungen, die Sie im Jahr haben, auch vom Bundeskartellamt, betreffen diesen Bereich. Bei vertikalen Zusammenschlüssen, also von Unternehmen, die auf verschiedenen Marktstufen stehen, oder bei konglomeraten Fusionen, durch die Leistungen der beteiligten Unternehmen wettbewerbshindernd miteinander verknüpft werden können, sieht das anders aus. Da ist es für die Kartellbehörden gar nicht leicht, den richtigen Hebel zu finden, um einen Zusammenschluss zu untersagen.
NJW: Sind deshalb Übernahmen wie die von WhatsApp und Instagram durch Facebook erlaubt worden?
Künstner: Die beteiligten Unternehmen waren, auch wenn jedes von ihnen in seinem Bereich schon marktbeherrschend war, bei korrekter Marktabgrenzung keine direkten Wettbewerber. Also konnte man sie nicht als horizontale Zusammenschlüsse untersagen. Übrigens: Würde man die Märkte nicht so feingliederig abgrenzen, käme man zu dem Ergebnis, dass die Unternehmen vielleicht Wettbewerber sind, aber keins von ihnen marktmächtig genug ist, um eine Fusion zu untersagen.
NJW: Es war eben schon von fehlenden Instrumenten die Rede. Was wäre nötig, um die Marktmacht der Internetkonzerne wirksam einzuhegen?
Künstner: Die Fusionskontrolle müsste ihre Selbstverzwergung aufgeben.
NJW: Das müssen Sie näher erläutern.
Künstner: Fusionskontrolle verzwergt sich quasi selbst, weil sie sich auf die wirtschaftlichen Folgen beschränkt. Die Machtkonzentration ist auf ganz vielen Ebenen ein Problem. Sie ist eine Gefahr auch für uns als Gesellschaft und für die Demokratie, etwa durch die Privatisierung und algorithmische Beeinflussung der öffentlichen Meinungsbildung oder die Nutzung massenhafter persönlicher Daten für Social Scoring oder Ähnliches. Außerdem darf man den lobbyistischen Einfluss, der mit großer Machtakkumulation einhergeht, nicht unterschätzen.
NJW: Aber ist es Aufgabe des Kartellrechts, auch solche Aspekte in den Blick zu nehmen?
Künstner: Das Kartellrecht reguliert den Wettbewerb. Themen wie Nachhaltigkeit und Umweltschutz sind auch wettbewerbsrelevant. Daher sollte man sie auch berücksichtigen. Die Wettbewerbsbehörden bräuchten aber natürlich die nötigen Ressourcen, die sie schon heute nicht haben, wie der frühere Chefökonom der Wettbewerbsdirektion in der EU-Kommission Tommaso Valletti gerade wieder beklagt hat.
NJW: Nochmals zu den Instrumenten. Gerade wird der Digital Markets Act (DMA) final verhandelt. Wie beurteilen Sie ihn?
Künstner: Er ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Wichtig ist, dass darin nicht die früheren Fehler der Fusionskontrolle wiederholt werden. Das heißt: Es darf nicht wieder ein System geschaffen werden, das zu politischen Kompromissen der Durchsetzungsbehörden mit den großen Netzfirmen führt. Es braucht Instrumente, mit denen die Kommission zum Jagen getragen werden kann. Einigungen unter halbgaren Auflagen müssen verhindert werden. Eine Möglichkeit wäre etwa, dass man auch den nationalen Wettbewerbsbehörden ein Durchsetzungsrecht gibt. Und es bräuchte ein Private Enforcement, denn die von solchen Fusionen betroffenen Unternehmen lassen sich nicht auf Kompromisse ein. Die Nichtigkeitsklage, mit der sie Freigabeentscheidungen der EU-Kommission angreifen können, ist wegen der engen Auslegung der individuellen Betroffenheit durch den EuGH ein stumpfes Schwert. Und zuletzt: Es gibt anders als in den USA keine missbrauchsauflösende Entflechtung in Deutschland und Europa. Mit einer genehmigten Fusion ist das Kind also in den Brunnen gefallen.
Dr. Kim Manuel Künstner begann nach Studium, Referendariat und einer kartellrechtlichen Promotion an der Universität Heidelberg 2013 als Rechtsanwalt in der Kanzlei Schulte Rechtsanwälte in Frankfurt a. M. Seit Anfang 2018 ist er deren Partner. Er berät nationale und internationale Unternehmen in allen Bereichen des deutschen und europäischen Kartellrechts sowie der Fusionskontrolle.