Urteilsanalyse
Verzicht auf Pflichtteil zu Lasten der Sozialhilfe
Urteilsanalyse
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Verzichtet ein Leistungen der Sozialhilfe empfangender Erbe auf den mit dem Erbfall gem. § 2317 BGB entstandenen Anspruch auf seinen Pflichtteil gegenüber der Alleinerbin, verstößt dies nach dem OLG Hamm nicht gegen § 138 BGB, auch wenn dadurch der Sozialhilfeträger weiterhin eintrittspflichtig bleibt.

9. Feb 2022

Anmerkung von

Rechtsanwalt Prof. Dr. Frank Ehmann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 03/2022 vom 04.02.2022

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Sachverhalt

Der Kläger trägt als Sozialhilfeträger die Kosten für die Betreuung des 1967 geborenen Schwerbehinderten in einer Werkstatt für behinderte Menschen i.S.d. §§ 219 ff. SGB IX. Die Eltern dieses behinderten Menschen errichteten 1988 ein gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich gegenseitig zu Alleinerben und einen weiteren Sohn zum Schlusserben einsetzten. Der Vater des Behinderten starb im Jahr 2017. Seit dem Tod ihres Ehemannes kann die beklagte Mutter den bis zu diesem Zeitpunkt bei ihrem wohnenden behinderten Sohn nicht mehr allein versorgen. Deshalb regte sie die Einrichtung einer Betreuung an. Der Sohn zog im Februar 2018 in den stationären Wohnbereich einer Behinderteneinrichtung und erhielt fortan Sozialhilfe in Form von stationärer Eingliederungshilfe und Hilfe zum Lebensunterhalt.

Seit 2020 ist die Beklagte (Mutter des behinderten Sohnes) ihrerseits pflegebedürftig und wird in einer betreuten Wohneinrichtung ambulant versorgt. Nach dem Tod des Vaters hat die Beklagte das zum Nachlass gehörende Wohnhaus zu einem Verkaufspreis von 235.000 EUR veräußert. Im Hinblick darauf leitete der klagende Sozialhilfeträger mit Bescheid vom Februar 2020 Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche des Leistungsempfängers nach dem Erblasser auf sich gem. § 141 SGB IX, § 93 SGB XII über.

Der Kläger verlangt zunächst Auskunft über den Nachlass. Nachdem diese verweigert wurde, hat er Auskunftsklage erhoben. Das LG hat die Beklagte mit Teilurteil verurteilt, dem Kläger Auskunft zu erteilen. Der behinderte Sohn sei pflichtteilsberechtigt. Der im Juni 2019 zwischen dem Sohn und seiner Mutter (=Beklagte) geschlossene Vertrag über den Verzicht auf den Pflichtteil habe allein dem Zweck gedient, den Zugriff des Klägers auf bereits entstandene werthaltige Ansprüche des Leistungsempfängers zu verhindern, um so zu Lasten der Allgemeinheit die Bedürftigkeit des Leistungsbeziehers aufrechtzuerhalten. Aufgrund dessen sei dieser Erlassvertrag sittenwidrig und gem. § 138 Abs. 1 BGB nichtig. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie verweist auf ein Urteil des BGH vom 19.01.2011 (BeckRS 2011, 2577). Danach komme es auf die Motivation der Beteiligten nicht an.

Entscheidung

Das OLG gibt der Berufung statt und weist die Klage ab. Der Vertrag zwischen behindertem Sohn und Mutter ist ein Erlassvertrag gem. § 397 BGB. Nach dem Grundsatz der Privatautonomie sind Rechtsgeschäfte, die das Bürgerliche Recht vorsieht, wirksam, solange sie nicht gegen entgegenstehende Gesetze verstoßen. Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen kann ihnen gleichwohl die Wirksamkeit versagt werden, wenn dies aufgrund übergeordneter Wertungen, etwa infolge objektiver Wertentscheidungen der Grundrechte, die über Generalklauseln wie § 138 Abs. 1 BGB in das Zivilrecht hineinwirken, erforderlich ist. Das Sozialhilferecht ist zwar von dem Grundsatz durchzogen, dass staatliche Hilfe nur beanspruchen kann, wer die betreffenden Aufwendungen (insbesondere den Lebensunterhalt) nicht durch den Einsatz eigener Einkünfte und eigenen Vermögens bestreiten kann, d.h. somit bedürftig ist (Nachranggrundsatz). Zivilrechtliche Gestaltungen können mit diesem Grundsatz in Konflikt geraten. Wie der BGH mit Urteil vom 19.01.2011 (a.a.O.) überzeugend dargelegt hat, ist der Nachranggrundsatz schon im Sozialhilferecht in erheblichem Maße durchbrochen. Der Gesetzgeber respektiert z.B. bei allen Leistungsarten Schonvermögen des Leistungsempfängers, seines Ehegatten und seiner Eltern.

Die Sittenwidrigkeit eines nachträglichen Erlasses kann nicht damit begründet werden, dass der Leistungsempfänger selbst tätig wird, indem er durch den Abschluss des Erlassvertrages mit der Alleinerbin auf seine Ansprüche verzichtet. Die Entscheidung darüber, ob jemand die Erbschaft bzw. den Pflichtteil erhalten will, ist von der Privatautonomie gedeckt. Grundsätzlich ist jeder frei in seiner Entscheidung, ob er Erbe eines anderen werden oder auf andere Art etwas aus dessen Nachlass bekommen will.

Praxishinweis

1. Das OLG geht davon aus, dass der behinderte Sohn bei Abschluss des Vertrages nicht geschäftsunfähig war, so dass auch unter diesem Aspekt von einer Unwirksamkeit nicht gesprochen werden kann. Das OLG stellt die Privatautonomie in den Mittelpunkt – unabhängig davon, welches die Motive bei dem behinderten Sohn nun im Einzelnen gewesen sind. Die Leistungen in Werkstätten für Behinderte gehören nun zu den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und damit zur Eingliederungshilfe, die nicht mehr in die Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers fällt, sondern von den Trägern der Eingliederungshilfe durchgeführt werden (§ 63 SGB IX). Bei den Beratungen des BTHG wurde sehr kontrovers diskutiert, ob die Leistungen der Eingliederungshilfe nun tatsächlich von Einkommen und Vermögen abhängig sein sollen oder nicht.

2. Wieweit der Pflichtteilsanspruch Leistungen der Sozialhilfe betrifft, war auch Gegenstand einer Entscheidung des SG Landshut vom 22.10.2020 (S 3 SO 45/18, n.v.). Das SG entschied, dass dem Anspruch des klagenden Pflegebedürftigen auf Leistungen der Hilfe zur Pflege nicht entgegenstehe, dass er die Aufrechnung der Mutter gegen den Pflichtteilsanspruch (mit einem Anspruch auf Aufwendungsersatz) akzeptiert hatte. Diese Vereinbarung sei auch nicht sittenwidrig gem. § 138 BGB (dazu Anmerkung von Schumacher, Rechtsdienst der Lebenshilfe 2021, 202).

3. Das LSG Bayern hat mit Beschluss vom 30.07.2015 (BeckRS 2015, 71493) den Anspruch auf Grundsicherung nach SGB II einem Antragsteller versagt, der zuvor die Erbschaft ausgeschlagen hatte und dadurch bedürftig wurde (dazu kritisch Doering-Striening, ErbR 2016, 154; Grote-Sefert in: Schlegel/Voelzke, juris, PK-SGB II, 5. Auflage, § 33 SGB II, Rn. 42).

OLG Hamm, Urteil vom 09.11.2021 - 10 U 19/21, BeckRS 2021, 41312