Urteilsanalyse

Ver­trau­en auf üb­li­che Post­lauf­zei­ten auch in Zei­ten der Co­ro­na-Pan­de­mie
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Eine Par­tei darf grund­sätz­lich dar­auf ver­trau­en, dass im Bun­des­ge­biet werk­tags in­ner­halb der Brief­kas­ten­lee­rungs­zei­ten auf­ge­ge­be­ne Post­sen­dun­gen am fol­gen­den Werk­tag aus­ge­lie­fert wer­den. An­ders liege es nur, wenn be­son­de­re Um­stän­de be­kannt seien, die zu einer Ver­län­ge­rung der nor­ma­len Post­lauf­zei­ten füh­ren kön­nen. Eine Brief­auf­ga­be in Co­ro­na-Zei­ten ist nach einem Be­schluss des BGH für sich ge­nom­men kein sol­cher Um­stand.

1. Feb 2021

An­mer­kung von
Rechts­an­walt Dr. Hans-Jo­chem Mayer, Fach­an­walt für Ver­wal­tungs­recht und Fach­an­walt für Ar­beits­recht, Bühl

Aus beck-fach­dienst Ver­gü­tungs- und Be­rufs­recht 02/2021 vom 28.01.2021

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes Ver­gü­tungs- und Be­rufs­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im Ver­gü­tungs- und Be­rufs­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des Ver­gü­tungs- und Be­rufs­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de

Sach­ver­halt

Das Land­ge­richt woll­te die Be­ru­fung der Klä­ge­rin ver­wer­fen, weil es an einer frist­ge­rech­ten Be­ru­fungs­be­grün­dung fehl­te. Die Klä­ge­rin be­an­trag­te dar­auf­hin Wie­der­ein­set­zung in den vo­ri­gen Stand und be­grün­de­te zu­gleich die Be­ru­fung. Sie mach­te gel­tend, die Frist ohne ihr Ver­schul­den ver­säumt zu haben. Ihr Pro­zess­be­voll­mäch­tig­ter habe recht­zei­tig eine Ver­län­ge­rung der Be­ru­fungs­be­grün­dungs­frist be­an­tragt. Er habe den Brief mit dem Ver­län­ge­rungs­an­trag am spä­ten Don­ners­tag­nach­mit­tag vier Tage vor Frist­ab­lauf per­sön­lich in einer Post­fi­lia­le ab­ge­ge­ben. Er habe sich dar­auf ver­las­sen dür­fen, dass der Brief bei der ge­wöhn­li­chen Post­lauf­zeit spä­tes­tens zwei Tage spä­ter und damit vor Frist­ab­lauf beim Be­ru­fungs­ge­richt ein­geht. Das Be­ru­fungs­ge­richt wies den Wie­der­ein­set­zungs­an­trag zu­rück und ver­warf die Be­ru­fung als un­zu­läs­sig. Da­ge­gen legte die Klä­ge­rin Rechts­be­schwer­de ein.

Ent­schei­dung: Ver­trau­en in üb­li­che Post­lauf­zei­ten trotz Co­ro­na-Pan­de­mie

Die Rechts­be­schwer­de war er­folg­reich. Der BGH hat den Be­schluss auf­ge­ho­ben und die Sache zu­rück­ver­wie­sen.

Das LG habe die Sorg­falts­an­for­de­run­gen, die an einen Rechts­an­walt bei der Wah­rung pro­zes­sua­ler Pflich­ten zu stel­len seien, über­spannt. Grund­sätz­lich dürfe dar­auf ver­trau­en wer­den, dass im Bun­des­ge­biet werk­tags – in­ner­halb der Brief­kas­ten­lee­rungs­zei­ten – auf­ge­ge­be­ne Post­sen­dun­gen am fol­gen­den Werk­tag aus­ge­lie­fert wer­den, es sei denn, es seien be­son­de­re Um­stän­de be­kannt, die zu einer Ver­län­ge­rung der nor­ma­len Post­lauf­zei­ten füh­ren könn­ten, etwa ein Post­streik. Sol­che Um­stän­de habe das LG nicht fest­ge­stellt. Dass die Brief­auf­ga­be in die Zeit der Co­ro­na-Pan­de­mie falle, ge­nü­ge al­lein nicht, um das Ver­trau­en auf die üb­li­chen Post­lauf­zei­ten zu er­schüt­tern. Kon­kre­te An­halts­punk­te für Ver­zö­ge­run­gen, etwa ent­spre­chen­de Hin­wei­se durch die Post oder die Me­di­en habe das LG nicht auf­ge­zeigt. Aus der Be­grün­dung der be­gehr­ten Frist­ver­län­ge­rung, eine Be­spre­chung mit der Klä­ge­rin sei co­ro­na­be­dingt nicht mög­lich, folge nichts an­de­res. Denn dar­aus könne nicht auf Ein­schrän­kun­gen auch bei der Post­zu­stel­lung ge­schlos­sen wer­den.

Der BGH mo­niert fer­ner die Be­grün­dung des LG für die An­nah­me, die Klä­ge­rin habe nicht hin­rei­chend glaub­haft ge­macht, dass ihr Pro­zess­be­voll­mäch­tig­ter den Frist­ver­län­ge­rungs­an­trag recht­zei­tig bei der Post auf­ge­ge­ben hat. Der Pro­zess­be­voll­mäch­tig­te habe die Rich­tig­keit sei­ner An­ga­ben an­walt­lich ver­si­chert. Von der Rich­tig­keit einer an­walt­li­chen Ver­si­che­rung sei grund­sätz­lich aus­zu­ge­hen, es sei denn, kon­kre­te An­halts­punk­te schlös­sen es aus, dass der ge­schil­der­te Sach­ver­halt mit über­wie­gen­der Wahr­schein­lich­keit zu­tref­fend ist. Sol­che An­halts­punk­te lägen hier nicht vor. Ins­be­son­de­re recht­fer­ti­ge der Um­stand, dass der Frist­ver­län­ge­rungs­an­trag nicht zur Akte ge­langt ist, kei­nen sol­chen Schluss.

Pra­xis­hin­weis

Der Rechts­an­walt darf grund­sätz­lich dar­auf ver­trau­en, dass im Bun­des­ge­biet werk­tags - in­ner­halb der Brief­kas­ten­lee­rungs­zei­ten - auf­ge­ge­be­ne Post­sen­dun­gen am fol­gen­den Werk­tag aus­ge­lie­fert wer­den. Dies gilt grund­sätz­lich auch dann, wenn all­ge­mein mit er­höh­tem Post­ver­kehr zu rech­nen ist (etwa vor Fei­er­ta­gen), es sei denn, dass kon­kre­te An­halts­punk­te (zum Bei­spiel Post­streik) dafür vor­lie­gen, dass im Ein­zel­fall mit län­ge­ren Post­lauf­zei­ten zu rech­nen ist (Wendt­land in Be­ck­OK ZPO, ZPO § 233 Rn. 26). In der be­rich­te­ten Ent­schei­dung stellt der BGH klar, dass eine Brief­auf­ga­be wäh­rend der Co­ro­na-Pan­de­mie al­lein kein An­halts­punkt dafür ist, dass im Ein­zel­fall mit län­ge­ren Post­lauf­zei­ten zu rech­nen ist.

BGH, Be­schluss vom 19.11.2020 - V ZB 49/20, rechts­kräf­tig (OLG Schles­wig), BeckRS 2020, 36583