Urteilsanalyse
Verstoß gegen den Richtervorbehalt auch bei Irrtum über die Erreichbarkeit
Urteilsanalyse
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Im Rahmen einer Durchsuchung der Wohnung des Angeschuldigten erlangte Beweismittel unterliegen nach einem Beschluss des LG Mainz einem Verwertungsverbot, wenn die Anordnung der Durchsuchung unter Verkennung des Richtervorbehaltes aus § 105 Abs. 1 StPO erfolgte.

18. Mai 2021

Anmerkung von 
Dr. Christian Rathgeber, Mag. rer. publ., Rechtsanwalt, Knierim & Kollegen Rechtsanwälte, Mainz 

Aus beck-fachdienst Strafrecht 10/2021 vom 13.05.2021

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Sachverhalt

Am Abend des 12.8.2019 war die Polizei von einem Zeugen zur Wohnung des Angeschuldigten (A) gerufen worden. Vor Ort trafen die Beamten den A an, der am Kopf blutete und angab in seiner Wohnung angegriffen worden zu sein. Die vermeintlichen Täter seien auf der Flucht. A erlaubte den Beamten grundsätzlich eine Spurensuche in seiner Wohnung, verbot ihnen aber, das Schlafzimmer zu betreten. Vor der verschlossenen Wohnungstür stellten die Beamten einen starken Marihuanageruch fest und kontaktierten um 20:30 Uhr telefonisch die zuständige Bereitschaftsstaatsanwältin. Diese ordnete um 20:40 Uhr die Durchsuchung der Wohnung an. Eine telefonische Kontaktaufnahme zu dem bis 21:00 Uhr erreichbaren Bereitschaftsrichter erfolgte nicht, weil die Bereitschaftsstaatsanwältin irrtümlich davon ausging, dass der Bereitschaftsrichter nicht mehr erreichbar sei. Nachdem A über die Durchsuchungsanordnung in Kenntnis gesetzt worden war, händigte er den Wohnungsschlüssel aus und äußerte dabei, dass er im Schlafzimmer Marihuana aufbewahre. Im Rahmen der anschließend durchgeführten Durchsuchung wurden u.a. Betäubungsmittel, eine Schreckschusswaffe sowie ein Teleskopschlagstock aufgefunden. Am Morgen des 13.8.2019 wurde A polizeilich vernommen und zu Beginn mittels eines standardisierten Formulars belehrt. Anschließend wurden ihm die Ergebnisse der durchgeführten Durchsuchung berichtet, woraufhin er Angaben zu Sache machte. Im Rahmen der weiteren polizeilichen Ermittlungen konnten einer der Beteiligten des Überfalls auf den A ermittelt und vernommen werden. Dieser bekundete u.a., dass A einem Dritten regelmäßig Marihuana und Kokain verkauft habe. Die StA erhob daraufhin Anklage gegen A wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge.

Entscheidung

Das LG lehnt die Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 204 Abs. 1 StPO aus tatsächlichen Gründen mangels hinreichenden Tatverdachts ab.

Es bestehe nach Aktenlage bei den gegebenen Beweismöglichkeiten keine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des A. Der Anklagevorwurf beruhe v.a. auf dem Ergebnis der am 12.8.2019 durchgeführten Durchsuchung. Die dabei erlangten Beweismittel unterlägen nach Auffassung der Kammer einem Verwertungsverbot, da die Anordnung der Durchsuchung unter Verkennung des Richtervorbehaltes aus § 105 Abs. 1 StPO erfolgt sei. Die zuständige Bereitschaftsstaatsanwältin habe ohne den Versuch der Kontaktaufnahme zu dem verfügbaren Bereitschaftsrichter die Durchsuchung angeordnet, obwohl zum Zeitpunkt der Durchsuchungsanordnung um 20:40 Uhr die Erreichbarkeit eines Bereitschaftsrichters grds. gewährleistet gewesen sei. Es bestünden laut Aktenlage auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Zweck der Maßnahme durch ein Abwarten gefährdet worden wäre. Eine Einverständniserklärung des A habe ebenfalls nicht vorgelegen. Soweit dieser seinen Wohnungsschlüssel ausgehändigt habe, sei dies nach Eröffnung der bereits angeordneten Durchsuchung erfolgt.

Die Rechtswidrigkeit der Durchsuchung rechtfertige vorliegend die Annahme eines Verwertungsverbots. Die zuständige Bereitschaftsstaatsanwältin habe die Bedeutung des Richtervorbehalts grundlegend verkannt, als sie keine Anstrengungen unternommen habe, den Bereitschaftsrichter zu erreichen, obwohl eine Erreichbarkeit grds. für den Zeitraum der Durchsuchung bestanden habe. Anhaltspunkte für die Annahme, dass eine richterliche Anordnung nicht oder nicht rechtzeitig habe erlangt werden können, seien nicht ersichtlich. Die Bereitschaftsstaatsanwältin habe vielmehr aufgrund einer von ihr dokumentierten „gedanklichen Fehlleistung“ verkannt, dass der richterliche Bereitschaftsdienst um die fragliche Uhrzeit noch erreichbar gewesen sei, obwohl die Zeiten des richterlichen Bereitschaftsdienstes im hiesigen LG-Bezirk hinlänglich bekannt seien. Der Richtervorbehalt sei damit jedenfalls leichtfertig umgangen worden. Angesichts dieser groben Missachtung des Richtervorbehalts komme es nicht mehr darauf an, dass bei richtiger Verfahrensweise ein Durchsuchungsbeschluss mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erlangen gewesen wäre. Die bei der Durchsuchung sichergestellten Beweismittel sowie etwaige zeugenschaftliche Aussagen der insoweit eingesetzten Polizeibeamten unterlägen damit vollumfänglich einem Beweisverwertungsverbot.

Etwaige weitere, dem Akteninhalt entnehmbare Beweismittel seien nicht geeignet, einen hinreichende Tatverdacht zu begründen. Insbesondere lasse sich ein hinreichender Tatverdacht nicht auf die polizeiliche Vernehmung am nächsten Morgen stützen. Zwar lehne die obergerichtliche Rechtsprechung eine Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten grds. ab, lasse sie in Ausnahmefällen nach der Sachlage im Einzelfall und der Art des Verwertungsverbots jedoch zu. So liege ausnahmsweise der Fall hier. Die polizeiliche Vernehmung des A am nächsten Morgen sei damit eröffnet worden, dass ihm mitgeteilt wurde, welche Beweismittel in seiner Wohnung gefunden worden seien. Seine folgenden Angaben seien deshalb inhaltlich derart eng mit der rechtswidrigen Durchsuchungsmaßnahme verwoben, dass die diesbezüglichen Angaben des A ebenfalls einem Verwertungsverbot unterlägen. Nicht von einem Beweisverwertungsverbot umfasst seien zwar die Angaben der vernommenen Zeugen. Jedoch sei anhand der bisherigen Ermittlungen nicht ersichtlich, dass diese Angaben geeignet seien, einen hinreichenden Tatverdacht für ein etwaiges Betäubungsmitteldelikt (Art, Menge, Qualität etc.) des A zu begründen.

Praxishinweis

Es handelt sich um einen der seltenen Fälle, in denen ein Gericht ein Beweisverwertungsverbot, noch dazu ergänzt um die noch seltenere Fernwirkung, mit so deutlichen Worten begründet. In einem späteren Fall setzte das OLG Koblenz (NStZ-RR 2021, 144) die argumentative Linie fort und nahm – entgegen der Vorinstanz – einen Beweisverwertungsverbot wegen einer schwerwiegenden Verkennung des Richtervorbehalts an. In erster Instanz hatte das LG Bad Kreuznach den Verstoß – trotz eines „gewichtigen Einzelfallversagens“ seitens der StA – noch als nicht ausreichend angesehen (vgl. LG Bad Kreuznach BeckRS 2021, 5205).

LG Mainz, Beschluss vom 26.10.2020 - 3 KLs 3300 Js 22971/19 (AG Mainz), BeckRS 2020, 45954