Anmerkung von
RA Dr. Thomas Winzer, Gleiss Lutz, Frankfurt a.M.
Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 05/2022 vom 10.02.2022
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Sachverhalt
Der Angeklagte war bei einer GmbH tätig und nahm nicht formal, aber tatsächlich die Aufgaben eines Geschäftsführers wahr. Anfang 2014 akquirierte er einen Großauftrag, bei dem die GmbH das für den Auf- und Abbau eines Gerüsts benötigte Personal zur Verfügung stellte. Der für diesen Auftrag vereinbarte Einheitspreis war so gering, dass eine legale Entlohnung des erforderlichen Arbeitsaufwandes nicht wirtschaftlich war. Somit beschloss der Angeklagte gemeinsam mit dem formellen Geschäftsführer, den Großteil der Bezahlung der Arbeitnehmer „schwarz“ über den Ankauf von Scheinrechnungen zu ermöglichen. Er meldete dementsprechend gegenüber der SOKA Gerüstbau geringere als die tatsächlich gezahlten Lohnsummen. Die SOKA Gerüstbau zog auf dieser Grundlage zu geringe Beiträge ein. Das LG Bochum verurteilte den Angeklagten u.a. wegen Betruges gegenüber der SOKA Gerüstbau in 17 Fällen. Der Angeklagte erhob gegen dieses Urteil Revision zum BGH.
Entscheidung
Der 1. Strafsenat des BGH hob den Schuldspruch wegen Betruges zum Nachteil der SOKA Gerüstbau auf. Die Beitragspflicht der GmbH zur SOKA Gerüstbau sei in den Feststellungen des LG nicht ausreichend dargelegt. Die Beitragspflicht setze die Tarifbindung der GmbH an den Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk vom 20.1.1994 i.d.F. vom 11.6.2002 (VTV-Gerüstbau) voraus. Ihre Tarifbindung sei aber auf Grundlage der Feststellungen im Urteil des LG nicht erkennbar. Aus dem Urteil ergebe sich nicht, dass die GmbH im Tatzeitraum eine tarifgebundene Arbeitgeberin war.
Auch aus § 15 I des Zweiten Sozialkassenverfahrensicherungsgesetzes (SokaSiG2) vom 1.9.2017 (BGBl. I 2017, 3356) folge im Strafverfahren keine Tarifbindung. § 15 I SokaSiG2 erstrecke die Rechtsnormen des VTV-Gerüstbau rückwirkend auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber. Dies sei nach der Rspr. des BAG verfassungsrechtlich unbedenklich. Allerdings könne diese Rückwirkung keine strafrechtlich relevanten Pflichten begründen, da die Gewährleistungen des Art. 103 II GG und des § 1 StGB entgegenstünden. Nach diesen Vorschriften müsse die Handlungspflicht bereits zu dem Zeitpunkt bestanden haben, in dem die in Frage stehende Tathandlung begangen wurde.
Die Tarifbindung könne sich zwar aus der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit zum 1.6.2002 ergeben. Allerdings könnte die Allgemeinverbindlicherklärung unwirksam sein, da aus den Unterschriften nicht ersichtlich sei, dass sich der Minister oder ein/e Staatssekretär/in persönlich damit befasst habe. Eine Entscheidung darüber sei dem Senat aber verwehrt, da möglicherweise die Aussetzungspflicht nach § 98 VI ArbGG greife. Um dies und insbesondere eine eventuelle Tarifbindung aufgrund Mitgliedschaft zu klären, bedürfe es einer erneuten tatrichterlichen Prüfung vor einer anderen Wirtschaftskammer des LG.
Praxishinweis
Der BGH bekräftigt, dass der Grundsatz „nulla poena sine lege“ im Strafverfahren stets zu beachten ist. Eine rückwirkende Begründung von strafrechtlich relevanten Pflichten ist daher ausgeschlossen. Wie der Beschluss zeigt, können so die arbeits- bzw. sozialrechtlichen Handlungspflichten und die strafrechtlichen Handlungspflichten auseinanderfallen. § 15 I SokaSiG2 begründet rückwirkend die Beitragszahlungspflicht nach VTV-Gerüstbau für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer als sozialrechtliche Handlungspflicht. Strafrechtliche Konsequenzen können sich für die Zeit der Rückwirkung aber nur ergeben, wenn die Pflicht zur Beitragszahlung nicht alleine auf der Rückwirkung des VTV-Gerüstbau beruht. Die Zahlungspflicht muss zum Tatzeitpunkt tatsächlich schon bestanden haben, bspw. durch Mitgliedschaft oder über eine wirksame Allgemeinverbindlicherklärung.
BGH, Beschluss vom 15.12.2021 - 1 StR 342/21 (LG Bochum), BeckRS 2021, 42107