Urteilsanalyse
Ver­sa­gung der fa­kul­ta­ti­ven Straf­mil­de­rung bei selbst ver­schul­de­tem Sich-Be­trin­ken
Urteilsanalyse
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Das selbst ver­schul­de­te Sich-Be­trin­ken kann be­reits für sich das Ver­sa­gen der in § 21 StGB vor­ge­se­he­nen fa­kul­ta­ti­ven Straf­mil­de­rung be­grün­den, so der BGH. Seine Trun­ken­heit sei dem Täter aber dann nicht un­ein­ge­schränkt vor­werf­bar, wenn er al­ko­hol­krank oder al­ko­hol­über­emp­find­lich ist.

25. Mrz 2022

An­mer­kung von Wiss. Mit. Dr. Sören Lich­tent­hä­ler, Knie­rim und Kol­le­gen, Mainz

Aus beck-fach­dienst Straf­recht 06/2022 vom 25.03.2022

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes Straf­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im Straf­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des Straf­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de.

Sach­ver­halt

Nach den Fest­stel­lun­gen des LG hat der An­ge­klag­te (A) sich am 7.2.2020 drei­er im Zu­stand er­heb­lich ver­min­der­ter Steue­rungs­fä­hig­keit be­gan­ge­ner Straf­ta­ten und am 29.8.2020 einer wei­te­ren Tat schul­dig ge­macht. Am 2.3.2020 war A be­reits vom AG wegen ver­such­ten Dieb­stahls unter Ein­be­zie­hung einer Vor­ver­ur­tei­lung durch das LG vom 9.8.2019 zu einer (zum Zeit­punkt des Ur­teils noch nicht er­le­dig­ten) Ge­samt­frei­heits­stra­fe und dar­über hin­aus zu einer (zum Zeit­punkt des Ur­teils durch Straf­ver­bü­ßung be­reits er­le­dig­ten) Ein­zel­stra­fe ver­ur­teilt wor­den. Dem (Vor-)Ur­teil vom 2.3.2020 maß das LG „Zä­sur­wir­kung“ bei, wes­halb es die dort ge­bil­de­te nach­träg­li­che Ge­samt­stra­fe auf­lös­te und unter Ein­be­zie­hung darin ent­hal­te­nen Ein­zel­stra­fe wegen ver­such­ten Dieb­stahls die drei Ein­zel­stra­fen für die Taten vom 7.2.2020 auf eine Ge­samt­stra­fe zu­rück­führ­te und für die Tat vom 29.8.2020 eine ge­son­der­te Ein­zel­stra­fe aus­ur­teil­te. Bei der Be­mes­sung der Ein­zel­stra­fen für die Taten vom 7.2.2020 sah es von einer Straf­rah­men­ver­schie­bung gem. §§ 21, 49 Abs. 1 StGB ab, weil die zum Tat­zeit­punkt er­heb­lich ver­min­der­te Steue­rungs­fä­hig­keit des A auf einen selbst­ver­schul­de­ten Al­ko­hol- und Dro­gen­rausch zu­rück­zu­füh­ren sei. Da die Kam­mer zu­gleich fest­stell­te, dass A al­ko­hol- und dro­gen­ab­hän­gig sei und es ihm ohne pro­fes­sio­nel­le the­ra­peu­ti­sche Un­ter­stüt­zung in einem sta­tio­nä­ren Raum nicht ge­lin­gen werde, län­ge­re Zeit ab­sti­nent zu leben, ord­ne­te sie au­ßer­dem die Un­ter­brin­gung des A in einer Ent­zie­hungs­an­stalt an und be­stimm­te, dass von der Ge­samt­frei­heits­stra­fe und der Frei­heits­stra­fe zwei Jahre vor der Ma­ß­re­gel zu voll­zie­hen seien. Gegen das Ur­teil wen­de­te sich A mit der Re­vi­si­on.

Ent­schei­dung

So­wohl was die Ver­sa­gung der Straf­mil­de­rung gem. §§ 21, 49 Abs. 1 StGB als auch was die Bil­dung der Ge­samt­stra­fe be­trifft (und dar­auf fu­ßend die Be­rech­nung der Dauer des „Vor­weg­voll­zugs“) sieht der 3. Senat die Ent­schei­dung des LG durch­grei­fen­den recht­li­chen Be­den­ken aus­ge­setzt.

Zu­nächst habe die Kam­mer von der fa­kul­ta­ti­ven Straf­rah­men­ver­schie­bung nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB im vor­lie­gen­den Fall nicht mit der Be­grün­dung ab­se­hen kön­nen, der Al­ko­hol- und Dro­gen­rausch des A sei selbst­ver­schul­det ge­we­sen. Zwar komme die Ver­sa­gung die­ser Straf­mil­de­rung grund­sätz­lich in Be­tracht, wenn die er­heb­li­che Ver­min­de­rung der Schuld­fä­hig­keit auf eine selbst zu ver­ant­wor­ten­de Be­rau­schung des Tä­ters zu­rück­zu­füh­ren ist. Das setze aber vor­aus, dass dem A die In­to­xi­ka­ti­on zum Vor­wurf ge­macht wer­den kann. Dies wie­der­um sei nicht oder nicht un­ein­ge­schränkt der Fall, wenn A al­ko­hol­krank, al­ko­hol­über­emp­find­lich oder dro­gen­ab­hän­gig ist – und ge­ra­de eine sol­che Ab­hän­gig­keit habe die Kam­mer im Zu­sam­men­hang mit der Ent­schei­dung über die Un­ter­brin­gung in eine Ent­zie­hungs­an­stalt fest­ge­stellt.

Davon un­ab­hän­gig sei aber auch die Ge­samt­stra­fen­bil­dung als sol­che zu be­an­stan­den, weil sich ihre Rich­tig­keit an­hand der Dar­le­gun­gen im Ur­teil nicht nach­prü­fen lasse. Mit dem Ur­teil des AG vom 2.3.2020 seien zwei ge­trenn­te Stra­fen gegen A ver­hängt wor­den: Zum einen eine nach­träg­li­che Ge­samt­stra­fe, zu­sam­men­ge­setzt aus einer Ein­zel­stra­fe wegen ver­such­ten Dieb­stahls unter Ein­be­zie­hung einer Vor­ver­ur­tei­lung durch das LG vom 9.8.2019, die zum Zeit­punkt der hie­si­gen Ver­ur­tei­lung noch nicht er­le­digt ge­we­sen ist, und zum an­de­ren eine be­reits er­le­dig­te Ein­zel­stra­fe. Die Ur­teils­grün­de teil­ten je­doch die Tat­zeit des ver­such­ten Dieb­stahls nicht mit. Wenn die­ser, was die vom AG nach­träg­lich ge­bil­de­te Ge­samt­stra­fe na­he­legt, vor dem 9.8.2019 be­gan­gen wor­den wäre, hätte die Straf­kam­mer diese nicht auf­lö­sen und die Ein­zel­stra­fe wegen ver­such­ten Dieb­stahls nicht mit den Ein­zel­stra­fen für die Taten vom 7.2.2020 zu einer Ge­samt­stra­fe zu­sam­men­füh­ren dür­fen. Denn dann hätte die vom AG aus­ge­spro­che­ne nach­träg­li­che Ge­samt­stra­fe den Straf­aus­spruch des Ur­teils des LG vom 9.8.2019 kor­ri­giert und wäre damit für alle da­nach be­gan­ge­nen Taten – also auch die hier ver­fah­rens­ge­gen­ständ­li­chen Taten – ohne Re­le­vanz; sie wäre als auf das frü­he­re Ur­teil „zu­rück­pro­ji­ziert“ zu be­han­deln und ge­samt­stra­fen­recht­lich ver­braucht. Die an­de­re im Ur­teil des AG vom 2.3.2020 aus­ge­ur­teil­te Ein­zel­stra­fe wäre dem­ge­gen­über in­so­weit zwar grund­sätz­lich ge­samt­stra­fen­fä­hig ge­we­sen; diese Ge­samt­stra­fen­fä­hig­keit sei indes mit der voll­stän­di­gen Er­le­di­gung die­ser Stra­fe ent­fal­len und damit zu­gleich die Zä­sur­wir­kung die­ser Vor­ver­ur­tei­lung er­lo­schen, wes­halb – als na­he­lie­gend – in Be­tracht komme, dass die Straf­kam­mer keine nach­träg­li­che Ge­samt­stra­fen­bil­dung vor­neh­men und nicht zwei ge­trenn­te Stra­fen habe ver­hän­gen dür­fen, son­dern die vier mit dem an­ge­foch­te­nen Ur­teil ver­häng­ten Ein­zel­stra­fen auf eine Ge­samt­stra­fe hätte zu­rück­füh­ren müs­sen.

Pra­xis­hin­weis

Seit dem Be­schluss des Gro­ßen Straf­se­nats vom 24.7.2017 – GSSt 3/17 (NJW 2018, 1180 m. Anm. Jahn) ist für die Recht­spre­chung ge­klärt, dass die Tat­ge­rich­te von der durch §§ 21, 49 Abs. 1 StGB er­öff­ne­ten Mög­lich­keit der fa­kul­ta­ti­ven Straf­rah­men­ver­schie­bung in Fäl­len der Trun­ken­heit be­reits des­halb ab­se­hen kön­nen, weil diese selbst­ver­schul­det war, und zwar auch dann, wenn die Fest­stel­lun­gen nicht be­le­gen, dass da­durch eine vor­her­seh­ba­re si­gni­fi­kan­te Er­hö­hung des Ri­si­kos der Be­ge­hung von Straf­ta­ten ein­ge­tre­ten wäre. Be­reits das Sich-Be­rau­schen sei im Grund­satz Un­recht, wie der Große Senat § 323a StGB, § 122 OWiG meint ent­neh­men zu kön­nen (nicht un­zwei­fel­haft – s. Fas­se­nacht/Kar­ne­val sowie Geis­ler, in: Mün­che­ner Kom­men­tar zum-StGB, 3. Aufl., 2019, § 323a Rn. 4). Die­ses „Un­recht“ des Sich-Be­rau­schens könne die durch den Al­ko­hol­rausch ver­min­der­te Schuld zum Tat­zeit­punkt aber nur dann kom­pen­sie­ren (und also das Ab­se­hen von der fa­kul­ta­ti­ven Straf­mil­de­rung le­gi­ti­mie­ren), wenn es sei­ner­seits ver­schul­det war, woran es u.a. dann fehle, wenn der Täter al­ko­hol­ab­hän­gig war. Der Ein­zel­ne ist dem­nach, so ließe sich ver­all­ge­mei­nern, je­den­falls in die­sem be­grenz­ten Um­fang dafür ver­ant­wort­lich, sich nicht in einen Zu­stand zu ver­set­zen, in dem es ihm er­heb­lich er­schwert ist, sich an die Ge­bo­te der Rechts­ord­nung zu hal­ten. Ist er (etwa auf­grund von Sub­stanz­ab­hän­gig­keit) indes nicht im­stan­de, selbst diese vor­ge­la­ger­te Ob­lie­gen­heit (bzw. laut BGH: Pflicht) zu er­fül­len, so be­las­tet ihn dies nicht (es wird also nicht in einem nächs­ten Schritt wei­ter da­nach ge­fragt, ob er nicht viel­leicht für die­ses De­fi­zit, also bspw. seine Ab­hän­gig­keit, „ver­ant­wort­lich“ sein könn­te).

Dies hat das LG vor­lie­gend nicht be­ach­tet. Aber selbst bei vor­werf­ba­rer Trun­ken­heit kommt es auch nach der neuen Recht­spre­chung stets auf eine Ge­samt­ab­wä­gung aller schuldre­le­van­ten Um­stän­de an: Die Straf­mil­de­rung gem. § 49 Abs. 1 StGB ist in die­sen Fäl­len also nicht stets zu ver­sa­gen, viel­mehr ob­lie­ge es dem Tat­ge­richt, zu be­wer­ten, ob die­ser Um­stand schwer genug wiegt, um die auf­grund der er­heb­lich ver­min­der­ten Ein­sichts- und Steue­rungs­fä­hig­keit ver­rin­ger­te Tat­schuld auf­zu­wie­gen, wobei die­ser Be­wer­tungs­vor­gang in den Ur­teils­grün­den dar­zu­stel­len ist (s. nur: BGH NStZ 2022, 93).

Die wei­te­ren Aus­füh­run­gen des Se­nats be­tref­fen dann noch zwei Fra­gen der nach­träg­li­chen Ge­samt­stra­fen­bil­dung, die in der Recht­spre­chung, wie folgt, ge­klärt sind: Ein Vor­ur­teil ent­fal­tet keine Zä­sur­wir­kung, wenn die ihm zu­grun­de lie­gen­de Straf­tat schon durch ein be­reits davor er­gan­ge­nes Ur­teil hätte ge­ahn­det wer­den kön­nen (es ist dann, wie es heißt, als auf die zeit­lich frü­he­re Ent­schei­dung „zu­rück­pro­ji­ziert“ zu be­han­deln – nur: BGH NStZ-RR 2017, 74); fer­ner ent­fällt die Zä­sur­wir­kung eines Vor­ur­teils, wenn die darin aus­ge­ur­teil­te Stra­fe voll­stän­dig er­le­digt ist (nur: BGH NStZ-RR 2017, 169).

BGH, Be­schluss vom 25.01.2022 - 3 StR 487/21 (LG Os­na­brück), BeckRS 2022, 3897