Anmerkung von
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht und Steuerrecht, Björn Krug, LL.M. (Wirtschaftsstrafrecht), Ignor & Partner GbR, Frankfurt a.M.
Aus beck-fachdienst Strafrecht 21/2021 vom 21.10.2021
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Sachverhalt
Die Nebenklägerin begehrt als Verletzte Akteneinsicht iSd. § 406e StPO in die Akten des gegen den Angeklagten geführten Verfahrens. Diese Akteneinsicht wurde vom AG vollumfänglich gewährt, wogegen sich der Angeklagte mit der Beschwerde wendet.
Entscheidung
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache nur teilweise Erfolg.
Soweit die Akten zeugenschaftliche Angaben der Nebenklägerin enthielten - sei es unmittelbar, also durch wörtliche Wiedergabe, oder mittelbar, insbesondere in Gestalt von kriminalpolizeilichen Zusammenfassungen -, sei die Einsicht nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO zu versagen. Hinsichtlich des übrigen Akteninhalts sei dagegen weder der Versagensgrund des § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO noch ein anderer Versagensgrund gegeben.
Nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO könne die Akteneinsicht des Berechtigten versagt werden, soweit der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Verfahren, gefährdet erscheine. Der Untersuchungszweck im Sinne dieses gesetzlichen Versagungsgrundes sei gefährdet, wenn durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO) zu besorgen sei. So liege es hier. Zur Sicherstellung einer unbefangenen, zuverlässigen und wahren Aussage der Nebenklägerin in einer eventuellen späteren Hauptverhandlung sei es unerlässlich, ihr jede Möglichkeit der vorherigen Kenntnisnahme vom Inhalt ihrer kriminalpolizeilichen Aussage zu nehmen. Für die Beweisführung stehe - abgesehen von den vorliegenden Textnachrichten und den die Verletzungen dokumentierenden Lichtbildern - nämlich ausschließlich die Zeugenaussage der Nebenklägerin zur Verfügung, da sich der Angeklagte bislang nicht zur Sache eingelassen habe. Die weiteren Zeugen hätten zum Kerngeschehen keine Angaben machen können. Soweit Verletzungsbilder vorlägen, dokumentierten diese zwar die Folgen der Auseinandersetzung, vermögen aber keinen Aufschluss über Vorgeschehen und konkreten Hergang zu geben. In einer solchen Verfahrenskonstellation sei - ebenso wie in der Beweiskonstellation von Aussage-gegen-Aussage - regelmäßig das durch § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO eingeräumte Ermessen dahingehend auf Null reduziert, dass die beantragte Akteneinsicht zu versagen sei. Anderenfalls könnte nämlich später nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass mit der Zeugenaussage in der Hauptverhandlung - bewusst oder unbewusst - nicht etwas tatsächlich Erlebtes wiedergegeben werde, sondern lediglich der Akteninhalt reproduziert werde. Auch bestehe die Gefahr, dass hierdurch bei den Verfahrensbeteiligten der falsche Eindruck einer Aussagekonstanz entstehe. Der Umstand, dass der Angeklagte keine eigenen Angaben zum Tatvorwurf gemacht habe, sondern sich durch Schweigen verteidige, stehe der Annahme einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nicht entgegen. Dass die Nebenklägervertreterin versichert habe, der Mandantin die Ermittlungsakte nicht zugänglich zu machen, erlaube keine andere Entscheidung. Denn zum einen sei die Einhaltung einer solchen Versicherung nicht mit der erforderlichen Sicherheit kontrollierbar. Und zum anderen sei eine solche Versicherung auch nicht durchsetzbar.
Der vielfach vertretenen Auffassung, dass die Gewährung von Akteneinsicht für den Nebenkläger den Angeklagten nicht beschwere, sondern im Gegenteil für diesen günstig sei, weil einer in der Hauptverhandlung gegebenen Aussagekonstanz infolgedessen nur eine erhebliche reduzierte Beweiskraft beigemessen werden könne, könne schon deshalb nicht gefolgt werden, weil es mit dem im Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich angelegten Grundsatz der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege unvereinbar sei, wenn das Gericht durch die Gewährung von Akteneinsicht für den Nebenkläger schon vorab dafür sorge, dass das Verfahren faktisch nur noch mit einem Freispruch enden könne. Im Übrigen sei aber auch durchaus zweifelhaft, dass die Gewährung von Akteneinsicht für den Nebenkläger quasi naturgesetzlich einen Freispruch zur Folge habe. Vielmehr bestehe durchaus auch die Gefahr, dass das Gericht es unterlasse, sich näher mit einer möglichen Verursachung der Aussagekonstanz allein durch vorherige Akteneinsicht auseinanderzusetzen, und auf dieser Grundlage zu Unrecht zu einem Schuldspruch gelange. Diese Gefahr sei umso größer einzuschätzen, als es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung grundsätzlich nicht geboten sei, im späteren Urteil eine etwaige Kenntnis des Nebenklägers vom Inhalt der Verfahrensakten im Zusammenhang mit der Aussageanalyse zu erörtern, sondern nur dann, wenn Hinweise auf eine konkrete Falschaussagemotivation des Nebenklägers oder Besonderheiten in seiner Aussage dazu Anlass gäben. Der Angeklagte könne also infolge einer Akteneinsichtsgewährung sogar einem erhöhten Risiko unterliegen, zu Unrecht verurteilt zu werden.
Die Kammer verkenne nicht, dass das Informationsrecht der Nebenklägerin sowie deren Recht auf Fürsorge, Gleichbehandlung und Menschenwürde durch die Versagung der Akteneinsicht nicht unerheblich eingeschränkt würden, doch sei dies von ihr im vorliegenden Einzelfall zur Sicherstellung der Wahrheitsfindung hinzunehmen, an der auch sie ein alles überragendes Interesse haben müsse.
Praxishinweis
Die Entscheidung verweist auf das Spannungsfeld, welches sich durch den (verletzten) Zeugen ergibt, der zugleich den Inhalt der Ermittlungsakte kennt. Das sich dadurch ergebende Problem wird verstärkt, wenn es sich um eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation handelt. Dann von einer Ermessensreduktion des entscheidenden Gerichts auf Null auszugehen, ist – wie die gut begründete Entscheidung des LG Kiel zeigt – sachgerecht (vgl. auch HansOLG Hamburg NStZ 2015, 105 sowie MüKo-StPO/Grau, § 406e Rn. 14 ff. mwN.). Die Lösung, den Verletzten auf eine Teilakteneinsicht oder einen späteren Zeitpunkt zu verweisen, ist gerade in so kritischen Fällen zielführend. Die Gegenauffassung (bspw. OLG Braunschweig NStZ 2016, 629) stützt sich auf Erwägungen wie die Zusicherung der anwaltlichen Vertretung der Nebenklage, die Akte nicht weiterzugeben – nur ist diese weder durchsetzbar noch überprüfbar (ebenso wenig wie das Argument, ein „erfahrener Richter erkenne einen präparierten Zeugen“). Im Ergebnis kann diese Argumentation daher nur schwer eine andere Entscheidung begründen.
LG Kiel, Beschluss vom 02.08.2021 - 10 Qs 45/21 (AG Kiel), BeckRS 2021, 28699