Urteilsanalyse
Verletzung rechtlichen Gehörs durch Übergehen von Hilfsanträgen
Urteilsanalyse
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Das Gericht übergeht nach einem Beschluss des BGH vom 29.10.2020 Prozessvortrag und verletzt das rechtliche Gehör, wenn es einen Klageantrag unberücksichtigt lässt und dadurch unter offenkundiger Missachtung des einschlägigen Prozessrechts den Kläger mit seinem Antrag und dem zugehörigen Lebenssachverhalt nicht hört.

13. Jan 2021

Anmerkung von
Richter am KG Dr. Oliver Elzer, Berlin

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 01/2021 vom 08.01.2021

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Sachverhalt

K erwirbt von B ein Grundstück unter Ausschluss der Haftung für Sachmängel. Dieses Grundstück ist im hinteren Teil mit einem Neubau bebaut, der aus dem Ausbau einer ehemaligen Scheune entstanden war. Eine Baugenehmigung war dafür nicht erteilt worden. Mit der Klage nimmt K die B auf Einholung der für den Neubau erforderlichen Genehmigungen, hilfsweise auf Übernahme der damit zusammenhängenden Kosten in Anspruch. Äußerst hilfsweise verlangt K die Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückübertragung des Grundstücks. Die Klage bleibt erfolglos.

Dagegen legt K Berufung ein. Im Berufungsverfahren schließen die Parteien einen Zwischenvergleich, durch den sich B zur Einholung der etwa erforderlichen bauaufsichtlichen Genehmigung auf ihre Kosten bis Ende Juni 2019 und K zu etwa erforderlichen Mitwirkungs- und Duldungshandlungen verpflichtet hat. Im Mai 2019 wird ein Bauschein unter Auflagen erteilt. Die Ausführung der insoweit notwendigen Arbeiten verursacht nach Behauptung des K einen Aufwand von mindestens 30.000 EUR.

Nach Fortsetzung des Rechtsstreits und Anfechtung des Kaufvertrags beantragt K zuletzt die Feststellung, dass B auf ihre Kosten die zur Erfüllung der Auflagen des Bauscheins erforderlichen Maßnahmen auszuführen habe, hilfsweise verlangt K die Zahlung von 30.000 EUR nebst Zinsen. Des Weiteren verfolgt K die bisherigen Anträge der Klage bzw. der Berufung nacheinander als Hilfsanträge. Die Berufung bleibt erfolglos. Das OLG begründet allerdings nicht, warum K keine Rückabwicklung des Kaufvertrags verlangen kann. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde möchte K die Zulassung der Revision hinsichtlich der Anträge aus der Klageschrift erreichen.

Entscheidung: Das OLG hat K‘s Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) verletzt!

Art. 103 I GG verpflichte das Gericht, die Ausführungen und Anträge der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Von einer Verletzung dieser Pflicht sei auszugehen, wenn besondere Umstände deutlich machten, dass das Vorbringen der Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden sei. Ein Übergehen von Prozessvortrag idS liege vor, wenn das Gericht einen Klageantrag unberücksichtigt lasse und dadurch unter offenkundiger Missachtung des einschlägigen Prozessrechts den Kläger mit seinem Antrag und dem zugehörigen Lebenssachverhalt nicht hört (Hinweis auf BGH NJW 2019, 1950 Rn. 11 = FD-ZVR 2019, 417290 mAnm Elzer).

So verhalte es sich hier. Das OLG habe sich nicht mit dem hilfsweise gestellten Antrag aus der Klageschrift auf Rückabwicklung des Kaufvertrags befasst, obwohl K diesen Antrag in der Berufungsinstanz ausdrücklich weiterverfolgt habe. Im Tatbestand des Berufungsurteils sei dieser Antrag wiedergegeben. Eine Begründung, warum die Berufung des K auch insoweit erfolglos sei, fehle aber. Das OLG habe die Hilfsanträge offenbar übersehen. 

Praxishinweis

Die Geltendmachung der Gehörsverletzung war nicht dadurch ausgeschlossen, dass K keine Ergänzung des Berufungsurteils nach § 321 ZPO beantragt hatte.

Zwar liegt in den Fällen, in denen ein geltend gemachter Haupt- oder Nebenanspruch vom Gericht nur versehentlich übergangen wird, idR nur eine ergänzungsbedürftige Teilentscheidung vor, deren Unvollständigkeit im Verfahren nach § 321 ZPO zu beheben ist. Eine Ergänzung des Urteils nach § 321 ZPO kommt aber nicht in Betracht, wenn ein prozessualer Anspruch (Streitgegenstand) rechtsfehlerhaft bewusst nicht beschieden worden ist oder wenn das Gericht über einen Anspruchsteil nicht entschieden hat, weil es das Begehren der Partei (wenn auch unrichtig) enger ausgelegt hat. Eine Urteilslücke iSd § 321 ZPO fehlt auch dann, wenn der Urteilstenor den ganzen Streitstoff erfasst (BGH NJW 1980, 840 (841)) und lediglich keine Gründe dazu vorliegen. Eine Urteilslücke setzt nämlich voraus, dass der nicht beschiedene prozessuale Anspruch nach Rechtskraft des Urteils weder zugesprochen noch abgewiesen wäre, der Kläger also die Möglichkeit eines neuen Rechtsstreits hätte.

Gemessen daran fehlte es im Fall an einer Entscheidungslücke. Denn das OLG hatte umfassend über die Berufung des K entschieden und diese zurückgewiesen. Der Tenor umfasste auch die in der Berufungsinstanz zuletzt gestellten Hilfsanträge; die damit verfolgten Ansprüche wären, würde das Berufungsurteil rechtskräftig, daher endgültig abgewiesen.

BGH, Beschluss vom 29.10.2020 - V ZR 300/19, BeckRS 2020, 32460