Urteilsanalyse
Verletzung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrates durch die Duldung von Überstunden
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Eine – das Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats nach § 87 I Nr. 3 BetrVG verletzende – Duldung von Überstunden liegt nach einem Beschluss des BAG vom 28.07.2020 dann vor, wenn hinreichende Anhaltspunkte für das Fehlen gebotener Gegenmaßnahmen durch den Arbeitgeber bestehen, um seine Untätigkeit als Hinnahme werten zu können.

2. Nov 2020

Anmerkung von
Rechtsanwalt  Dr. Frank Merten, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 43/2020 vom 29.10.2020

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Sachverhalt

Nachdem es in insgesamt drei Fällen zu zeitlichen Überschreitungen der in einer Betriebsvereinbarung festgelegten Schichtzeiten gekommen war, leitete der Betriebsrat ein Beschlussverfahren ein und forderte von der Arbeitgeberin, es zu unterlassen, die Ableistung von Überstunden zu dulden oder entgegen zu nehmen, ohne dass hierüber eine Einigung mit ihm herbeigeführt oder die fehlende Einigung durch eine Entscheidung der Einigungsstelle ersetzt worden wäre. Das ArbG hat den Antrag abgewiesen, das LAG hat ihm stattgegeben.

Entscheidung

Das BAG wies die Beschwerde des Betriebsrates zurück. Es führt aus, dem Betriebsrat stehe ein allgemeiner Unterlassungsanspruch aus § 87 I BetrVG nicht zu. Es fehle an einem betriebsverfassungswidrigen Verhalten der Arbeitgeberin, das auch der Unterlassungsanspruch nach § 23 III BetrVG voraussetze. Zwar sei nicht nur die Anordnung, sondern ebenso die Duldung von Arbeitnehmern geleisteter Überstunden nach § 87 I Nr. 3 BetrVG mitbestimmungspflichtig, wenn ein kollektiver Tatbestand vorliegt. Auch schließe die vorübergehende Änderung der betriebsüblichen Arbeitszeit einzelner Arbeitnehmer einen kollektiven Tatbestand nicht grds. aus, denn sie betreffe die kollektiven Interessen der Belegschaft des Betriebs. Die vom Betriebsrat zur Begründung seines Unterlassungsbegehrens dargelegten Anlassfälle trügen allerdings nicht die Annahme einer Duldung von Überstunden durch die Arbeitgeberin. Von dieser könne regelmäßig ausgegangen werden, wenn der Arbeitgeber in Kenntnis der Überstundenleistungen durch Arbeitnehmer untätig bleibt und diese über einen längeren Zeitraum hinnimmt. So sei der Duldungstatbestand bspw. erfüllt, wenn Monat für Monat eine Vielzahl von Arbeitnehmern immer wieder in erheblichem Maße Überarbeit leisten und der Arbeitgeber diese Überstunden entgegennimmt und bezahlt oder die betrieblich-organisatorischen Gründen bedingen, dass Arbeitnehmer häufig über das mitbestimmt festgelegte Schichtende hinaus arbeiten und diese Mehrarbeit angenommen und vergütet wird. Allerdings ließe sich auf eine Duldung von Überstunden nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls schließen. Einzelne oder besonderen einmaligen Umständen geschuldete Überschreitungen der betriebsüblichen Arbeitszeit sprächen für sich gesehen nicht dafür, dass der Arbeitgeber diese hinnimmt. Es müsse hinreichende Anhaltspunkte für das Fehlen gebotener Gegenmaßnahmen durch den Arbeitgeber geben, um dessen Untätigkeit als ein Hinnehmen werten zu können. Gemessen daran lägen bei den streitgegenständlichen Anlassfällen keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Duldung vor. So seien in den beiden ersten Fällen nicht nur die Schichtendzeiten, sondern ebenso die Schichtanfangszeiten sowie die Pausenzeiten nicht beachtet worden. So hätten die Arbeitgeber die Schicht zum Teil später und zum Teil früher begonnen, ein „Kommen“ und „Gehen“ außerhalb festgelegter Pausenzeiten gebucht und das Schichtende teilweise um Minuten, teilweise aber auch um Stunden überschritten, wobei ein Arbeitnehmer dennoch sein monatliches Stundensoll nicht erreichte. Auch habe die Arbeitgeberin Überstunden weder bezahlt noch bestünden Anhaltspunkte, dass das Überschreiten der täglichen Schichtdauer organisatorisch oder durch das Arbeitspensum bedingt gewesen sei. Ebenso liege es bei dem weiteren Anlassfall, bei dem ein Arbeitnehmer an zwei Tagen, an denen Betriebsversammlungen stattgefunden haben, jeweils länger als acht Stunden gearbeitet hatte. Insoweit fehlt es aus Sicht des BAG an einer gewissen Permanenz und Redundanz, um auf das Unterlassen gebotener Gegenmaßnahmen durch die Arbeitgeberin schließen zu können, was seinerseits eine Würdigung ihres Nichthandelns als eine Hinnahme von Überstunden rechtfertigen könnte. Schließlich bestünden auch Zweifel, ob die für ein Unterlassungsbegehren wegen einer Verletzung des Mitbestimmungsrechts nach § 87 1 Nr. 3 BetrVG erforderliche Wiederholungsgefahr gegeben ist, da die Arbeitgeberin im konkreten Fall Maßnahmen ergriffen hatte, um zukünftig gleichartige Störungen auszuschließen.

Praxishinweis

Das BAG führt seine Rspr. zur Verletzung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates durch die Duldung von Überstunden fort (vgl. BAG, NZA 1991, 382).

Für die juristische Praxis bedeutsam – aber auch anspruchsvoll – ist, dass das BAG betont, auf eine mitbestimmungswidrige Duldung von Überstunden lasse sich nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls schließen. Dass die Anforderungen an Arbeitgeber dabei nicht zu hoch gesetzt werden dürfen, illustriert die vorliegende Entscheidung, mit der das BAG es zu Recht abgelehnt hat, aus wenigen, besonders gelagerten Ausnahmefällen bereits auf ein mitbestimmungswidriges Verhalten des Arbeitgebers zu schließen.

BAG, Beschluss vom 28.07.2020 - 1 ABR 18/19 (LAG München), BeckRS 2020, 25918