Anmerkung von
RA Prof. Dr. Jobst-Hubertus Bauer, Stuttgart
Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 41/2022 vom 20.10.2022
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Sachverhalt
Die Kl. des Vorlageverfahrens war vom 1.11.1996 bis 31.7.2017 bei der Beklagten beschäftigt. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte die Kl. für die von ihr zwischen 2013 und 2017 nicht genommenen 101 Tage bezahlten Jahresurlaubs eine finanzielle Vergütung. Die Bekl. lehnte es ab, den Jahresurlaub abzugelten. Der von der Kl. am 6.2.2018 erhobene Klage wurde im ersten Rechtszug teilweise stattgegeben. Demnach wurde der Kl. eine Abgeltung für drei im Jahre 2017 nicht genommene Tage bezahlten Jahresurlaubs gewährt. Hinsichtlich der Ansprüche, die sich auf die für die Jahre 2013 bis 2016 nicht genommenen Urlaubstage beziehen, wurde die Klage abgewiesen. Das LAG entschied daraufhin in der 2. Instanz, dass die Kl. für den im Zeitraum von 2013 bis 2016 nicht genommenen Jahresurlaub Anspruch auf Abgeltung von 76 weiteren Tagen habe. Die Bekl. habe nicht dazu beigetragen, dass die Klägerin ihren Urlaub für diese Jahre zur gebotenen Zeit habe nehmen können, sodass die Ansprüche nicht nach §§ 194 ff. BGB verjährt seien. Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Revision ein. Daraufhin hat das BAG das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH die Frage vorgelegt, ob Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 II EU-GRCharta der Anwendung einer nationalen Regelung wie § 194 I i.V.m. § 195 BGB entgegenstehen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und tatsächliche Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt habe, seinen Urlaubsanspruch auszuüben.
Entscheidung
Art. 7 der RL 2003/88/EG widerspiegele und konkretisiere das in Art. 31 II EU-GRCharta verankerte Grundrecht auf bezahlen Jahresurlaub. Diesem Anspruch komme als Grundsatz des Sozialrechts der Union besondere Bedeutung zu. Die regelmäßige Verjährung nach § 195 BGB bewirke, dass die Wahrnehmung des Anspruchs der Bekl. auf bezahlten Jahresurlaub aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88 einer Einschränkung unterliege. Folglich liege damit auch eine Einschränkung des Rechts vor, das Art. 31 II EU-GRCharta zuerkennt. In der EU-GRCharta verankerte Grundrechte dürften nur unter Einhaltung der in Art. 52 I vorgesehenen strengen Bedingungen eingeschränkt werden. Diese Einschränkungen müssten gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt des betreffenden Rechts achten sowie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und von der EU anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen. Zwar verfolge die Verjährungsvorschrift des § 195 BGB ein legitimes Ziel, nämlich die Gewährleistung der Rechtssicherheit. Dieses Interesse sei indes dann nicht mehr berechtigt, wenn der Arbeitgeber sich dadurch, dass er davon abgesehen habe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen, selbst in eine Situation gebracht habe, in der er mit solchen Anträgen konfrontiert werde, und aus der er zulasten des Arbeitnehmers Nutzen ziehen könnte. Vorliegend sei es Sache des Arbeitgebers, gegen späte Anträge wegen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch Vorkehrungen zu treffen, dass er seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachkomme, womit die Rechtssicherheit gewährleistet werde, ohne dass das in Art. 31 II EU-GRCharta verankerte Grundrecht eingeschränkt würde. Nach alledem sei auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 II EU-GRCharta einer nationalen dreijährigen Verjährungsfrist entgegenstünden, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt habe, den Urlaubsanspruch wahrzunehmen.
Praxishinweis
Mit der Rspr. des EuGH zum Urlaubsrecht kann ich mich nach wie vor nicht anfreunden. So habe ich Zweifel, ob die Interpretation von Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 II, 52 I EU-GRCharta noch den Vorstellungen des EU-Gesetzgebers entspricht. Es ist mir unerklärlich, wie man auf den Gedanken kommen kann, dass die dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB das Recht auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 7 RL 2003/88/EG in seinem „Wesensgehalt“ antasten soll. Arbeitnehmer kennen ihre Urlaubsansprüche zur Genüge. Dann sollte es ihnen auch zumutbar sein, diese innerhalb der dreijährigen Verjährungsfrist unabhängig davon geltend zu machen, ob der Arbeitgeber entsprechende Hinweise gegeben hat oder nicht.
EuGH, Urteil vom 22.09.2022 - C-120/21 (BAG), BeckRS 2022, 24513