Urteilsanalyse
Verfassungsmäßigkeit der beschränkten Rückwirkung beim Kindergeld
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Die Beschränkung der Auszahlung festgesetzten Kindergeldes nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist nach Ansicht des BFH verfassungsrechtlich unbedenklich.

23. Dez 2022

Rechtsanwalt Thomas Franz, solegis Rechtsanwälte, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 26/2022 vom 22.12.2022

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Sachverhalt

Für ihren Sohn S bezieht die Klägerin Kindergeld wegen dessen Ausbildung. Auf ihre Mitteilung über das Ende der Ausbildung im Januar 2017 hebt die beklagte Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab Februar 2017 auf.

Mit Schreiben vom 29.07.2019 beantragt die Klägerin rückwirkend Kindergeld im Hinblick auf das seit 2014 von S ausbildungsbegleitend absolvierte Verbundstudium. Mit Bescheid vom 26.08.2019 wird das Kindergeld antragsgemäß festgesetzt. Die Beklagte weist darauf hin, dass wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eine Auszahlung des festgesetzten Kindergeldes rückwirkend lediglich für 6 Monate, also erst ab Januar 2019, erfolgen könne. Der hiergegen erhobene Einspruch bleibt ohne Erfolg, weshalb die Klägerin Klage beim FG erhebt. Während des Prozesses erlässt die Beklagte am 30.04.2020 einen Abrechnungsbescheid i.S.d. § 218 Abs. 2 AO. Hiernach könne eine Kindergeldauszahlung für die Monate Februar 2017 bis Dezember 2018 nicht erfolgen. Auch der hiergegen erhobene Einspruch wird zurückgewiesen und deshalb Klage erhoben.

Die Klägerin macht geltend, bei § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG handele es sich um einen Fremdkörper im System, der als solcher verfassungswidrig sei. Dies ergebe sich u.a. aufgrund der Folgen, die i.R. der Günstigerprüfung zwischen Kinderfreibetrag und Kindergeld entstünden, wenn nicht ausgezahltes Kindergeld angerechnet werde. Die von der Klägerin angenommene Verfassungswidrigkeit des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG bestätigt das FG nicht und weist die Klage ab. Im Revisionsverfahren macht die Klägerin weiterhin die Verfassungswidrigkeit des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG geltend.

Entscheidung

Die Revision wird vom BFH als unbegründet zurückgewiesen. Schon der mit Wirkung ab 18.07.2019 durch § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG abgelöste § 66 Abs. 3 EStG a.F. ist nicht verfassungswidrig gewesen. Die dem Steuerpflichtigen vom Gesetzgeber auferlegte Obliegenheit, Kindergeld innerhalb von 6 Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragten, ist nicht zu beanstanden. Etwas anderes folgt auch nicht aus der nach Art. 1, 20 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG gebotenen Steuerfreiheit des Existenzminimums des Kindes. Denn ein aufgrund der Anwendung der Frist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. ausgeschlossener und nicht festfestsetzungsverjährter Kindergeldanspruch ist bei der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 EStG nur in Höhe von 0,00 EUR zu berücksichtigen, sodass dem Steuerpflichtigen der Kinderfreibetrag und der weitere Freibetrag für Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarfe verbleibt.

§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG führt dazu, dass lediglich die rückwirkende Auszahlung von festgesetztem Kindergeld auf 6 Monate begrenzt ist, die Festsetzung als solche aber unberührt bleibt. Die Norm begründet damit ein Auszahlungshindernis.

Die von der Klägerin verfolgte Argumentation ist nicht für den Rechtsstreit von Bedeutung, sondern bezieht sich auf die Freibeträge für Kinder nach § 32 Abs. 6 EStG und die Günstigerprüfung nach § 31 EStG, worüber bei der Einkommensteuerveranlagung der Klägerin zu streiten wäre.

Praxishinweis

Weil der von der Klägerin gestellte Antrag am 30.07.2019 bei der Familienkasse einging, war der ab dem 18.07.2019 geltende § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG zu beachten (s. § 52 Abs. 50 Satz 1 EStG). Damit war zwar eine Festsetzung des Kindergeldes auch über einen Halbjahreszeitraum hinaus möglich, nicht aber dessen Auszahlung. Dies ist wichtig, weil von der Festsetzung andere Leistungen abhängen können (Selder, in: Brandis/Heuermann, Ertragssteuerrecht, § 70 EStG, 163. EL., Rn. 19).

Der im Vergleich zur 4-jährigen Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO verkürzten Auszahlungsfrist liegt die Überlegung des Gesetzgebers zugrunde, dass Kindergeld von seiner Zwecksetzung her im laufenden Kalenderjahr die steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines Kindes sicherstellen soll (so BT-Drs. 18/12127, S. 62, zu Nummer 7 (§ 66 Abs. 3 – neu –).

Ebenso wie das BSG (BeckRS 2016, 115112, Rn. 17) gegen die durch § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II a.F. bewirkte Verkürzung der rückwirkenden Leistungserbringung von Arbeitslosengeld II keine verfassungsrechtlichen Bedenken hat, lässt auch der BFH die Regelung in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG unbeanstandet. Bereits mit den Freibetragsregelungen wird antragsunabhängig gewährleistet, dass das zur Deckung des Familienexistenzminimums benötigte Einkommen verbleibt (BVerfG, BeckRS 2003, 25072).

Zum Tragen kommt die Vorschrift des § 70 Abs. 2 Satz 1 EStG vornehmlich bei der Inanspruchnahme des Kindergeldes durch den nicht berechtigten Elternteil (vgl. Conradis, in: Hk-MuSchG, 6. Aufl., 2022, § 70 EStG, Rn. 6). Deshalb ist das besondere Augenmerk auf die Anspruchsberechtigung zu legen. Für einen im EU-Ausland lebenden Elternteil hilft Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 weiter, wonach ein von einem Elternteil gestellter Antrag auch zugunsten einer Person zu berücksichtigen ist, die selbst keinen Antrag gestellt hat (BFH, BeckRS 2021, 41220, Rn. 22).

BFH, Beschluss vom 22.09.2022 - III R 21/21, BeckRS 2022, 31629