Urteilsanalyse
Verfall von Urlaub bei Dauererkrankung des Arbeitnehmers
Urteilsanalyse
SM_urteil_CR_FM2_adobe
© Stefan Yang / stock.adobe.com
SM_urteil_CR_FM2_adobe

Der Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub aus einem Urlaubsjahr, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, bevor er aus gesundheitlichen Gründen an der Inanspruchnahme seines Urlaubs gehindert war, erlischt nach einem Urteil des BAG regelmäßig nur dann nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten, wenn der Arbeitgeber ihn rechtzeitig in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub in Anspruch zu nehmen.

31. Jan 2023

Anmerkung von
RA Dr. Christian Arnold, Gleiss Lutz, LL.M. (Yale), Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 03/2022 vom 26.01.2023

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des wöchentlich erscheinenden Fachdienstes Arbeitsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Arbeitsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Arbeitsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.

Sachverhalt

Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger ist bei Fraport als Frachtfahrer beschäftigt. Er konnte in der Zeit vom 01.12.2014 bis jedenfalls August 2019 wegen voller Erwerbsminderung seine Arbeitsleistung nicht erbringen. Er konnte aus diesem Grund auch keinen Urlaub nehmen. Für das Jahr 2014 ist ein Urlaubsanspruch im Umfang von 24 Arbeitstagen noch nicht erfüllt. Nach Auffassung des Klägers hat die Beklagte ihre Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme des Urlaubs im Jahr 2014 mitzuwirken, nicht erfüllt. ArbG und LAG haben die Klage abgewiesen. Das BAG hatte die Sache zunächst zur Vorabentscheidung dem EuGH vorgelegt.

Entscheidung

Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Das BAG stützt sich bei seiner Entscheidung auf das Urteil des EuGH vom 22.09.2022 (FD-ArbR 2022, 452175), nach dem Art. 7 RL 2003/88/G und Art. 31 II GRCh einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, den er in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, entweder nach Ablauf eines nach nationalem Recht zulässigen Übertragungszeitraums oder später auch dann erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben. Zwar erlöschen Urlaubsansprüche nach Auffassung des BAG nur dann am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor durch Erfüllung sog. Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Allerdings bestünden Besonderheiten, wenn der Arbeitnehmer seinen Urlaub aus gesundheitlichen Gründen nicht nehmen könne. Das BAG weist darauf hin, dass nach der bisherigen Senatsrechtsprechung die gesetzlichen Urlaubsansprüche bei dauerhafter Arbeitsunfähigkeit ohne weiteres mit Ablauf des 31.03. des zweiten Folgejahres untergingen („15-Monats-Frist“). Die Entscheidung des EuGH vom 22.09.2022 mache jedoch eine Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung notwendig. Danach verfalle zwar weiterhin der Urlaubsanspruch mit Ablauf der 15-Monats-Frist, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31.03. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert gewesen sei, seinen Urlaub anzutreten. Für diesen Fall komme es auch nicht darauf an, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen sei, weil diese nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs hätten beitragen können. Anders sei jedoch der Fall zu beurteilen, wenn der Arbeitnehmer – wie vorliegend – im Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet habe, bevor er voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig geworden sei. In diesem Fall setze die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 III BUrlG regelmäßig voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in die Lage versetzt habe, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen.

Praxishinweis

Der 9. Senat setzt das Urteil des EuGH vom 22.09.2022 wie erwartet um. Ab sofort differenziert er bei Anwendung der 15-Monats-Frist im Fall der Dauererkrankung von Arbeitnehmern danach, ob es sich um Urlaub handelt, der vollständig während der Arbeitsunfähigkeit oder der noch vor der Arbeitsunfähigkeit entstanden ist. Urlaub, der erst während der Arbeitsunfähigkeit entsteht, verfällt weiterhin ohne Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers nach Ablauf der 15-Monats-Frist. Urlaub, der vor Beginn der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit entstanden ist, erlischt nur bei Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten. Aufgrund der Vorgaben des EuGH blieb dem 9. Senat keine andere Wahl, als eine solche Differenzierung vorzunehmen. Arbeitgeber sollten mit Blick auf die Entscheidung ihren Mitwirkungsobliegenheiten möglichst frühzeitig im Kalenderjahr nachkommen, um bei dem selten absehbaren Eintritt einer Dauererwerbsunfähigkeit eine Inanspruchnahme des vollständigen Urlaubsanspruchs ermöglicht zu haben.

Die Anmerkung beruht auf der Pressemitteilung des Gerichts (FD-ArbR 2022, 454746).