NJW: Im Moment jagt im Verwaltungsrecht ein Gesetzespaket das andere. Klappt das in der Praxis?
Korbmacher: Das BVerwG ist als Revisionsinstanz natürlich immer erst nach einiger Zeit mit neuen gesetzlichen Vorgaben befasst, so dass es schwer ist, eine Prognose abzugeben, ob zu viel oder zu wenig passiert. Ob die vorgesehenen Regelungen sich in der Praxis bewähren, wird zudem in erster Linie davon abhängen, ob in die Planungs- und Genehmigungsverfahren die erforderlichen personellen und sachlichen Ressourcen investiert werden. Denn daran hapert es am meisten. Was uns als BVerwG unmittelbar betrifft, sind die erstinstanzlichen Zuständigkeiten, die uns mit den Gesetzespaketen neu zugewiesen werden, wie zB im LNG-Beschleunigungsgesetz für den Bau von Flüssiggas-Terminals. Das kann sehr schnell dazu führen, dass wir gefragt sind. Und das bringt eine Herausforderung für uns mit sich: Rechtsschutz benötigt eine gewisse Zeit, bei der Transformation in der Energiekrise haben wir aber nur sehr wenig davon und noch weniger bei der Errichtung dieser Terminals. Das setzt alle Beteiligten unter Druck.
NJW: Man verliert da schnell den Überblick – wo gibt es denn sonst noch neue Zuständigkeiten?
Korbmacher: Im Ausländer- und Asylrecht soll beispielsweise eine sogenannte Tatsachenrevision eingeführt werden. Das wird schon lange diskutiert, und das BVerwG hat sich auch aufgeschlossen gegenüber dieser Änderung gezeigt: Es ist durchaus sinnvoll, wenn den OVGs die Möglichkeit eröffnet wird, bei unterschiedlichen Auffassungen zwischen zwei oder mehreren OVGs über allgemeine abschiebungs- oder asylrelevante Tatsachen das BVerwG anzurufen und diese Frage dort für alle klären zu lassen. Bei Planungen durch den Gesetzgeber soll das BVerwG zudem Normenkontrollgericht werden. In der Vergangenheit sind bei Straßen- oder Eisenbahnplanungen die Kataloge unserer Zuständigkeit erweitert worden, zum Teil sogar erheblich. Auch hier hört man, dass weiter draufgesattelt werden soll. Diese Zuständigkeit war dabei zunächst nur für die Sondersituation nach der Wiedervereinigung gedacht, als die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neuen Bundesländern noch im Aufbau begriffen war. Das hat sich aus Sicht der Politik bewährt und ist in Dauerrecht überführt worden. Bei großen Projekten ist dies auch nachvollziehbar, weil man Vorhaben wie die Feste Fehmarnbeltquerung, die Leverkusener Rheinbrücke oder die Elbvertiefung nicht durch drei Instanzen prüfen lassen kann.
NJW: Steht Europarecht zu sehr im Wege?
Korbmacher: Da muss man realistisch sein: Man kann komplexe Verfahren in einem hochindustrialisierten Land mit vielerlei Interessen nicht beliebig beschleunigen. Das gilt vor allem für die Planungs- und Genehmigungsverfahren selbst, weniger für die Gerichtsverfahren, die im gesamten Prozess nur einen kleinen Teil der Zeit einnehmen. Natürlich kann man, wie beim LNG-Beschleunigungsgesetz, die Anhörungsfristen in Zulassungs- und Genehmigungsverfahren auf wenige Tage verkürzen. Das lässt sich – auch europarechtlich – aber nur dann rechtfertigen, wenn es wirklich eine unmittelbare Notlage von nationaler Tragweite gibt – das ist nicht bei jedem Brückenbauwerk der Fall oder für ein normales Planfeststellungsverfahren einer großen Autobahn, von Energieleitungen, Eisenbahnstrecken oder eines Flughafens. Da sind die Möglichkeiten viel schneller ausgeschöpft, als man sich das vielleicht vorstellt. Der eigentliche Hemmschuh sind die hohen Anforderungen im materiellen Recht, auch und gerade im Europarecht. Da kommt man aber nur sehr schwer und vor allem nicht kurzfristig ran. Themenkomplexe wie die Umweltverträglichkeitsprüfung, der Artenschutz und viele weitere sind europarechtlich durchdekliniert. So kostet etwa die Öffentlichkeitsbeteiligung mit umfangreichen Erörterungsterminen Zeit.
Aber es gibt auch hausgemachte Probleme, wie etwa die jüngste Änderung des BNatSchG zeigt. Dort hat man für die Regelung der Fragen, wann ein erhöhtes Tötungsrisiko für Vögel im Zusammenhang mit Windenergieanlagen an Land vorliegt und wie Schutzmaßnahmen auszusehen haben, acht Seiten Gesetzestext im Bundesgesetzblatt benötigt. Das ist alles andere als schlanke Gesetzgebung. Und auch bei der Planfeststellung durch Gesetz muss ein vollumfängliches Planungsverfahren vorgeschaltet werden.
NJW: Und im Prozessrecht?
Korbmacher: Die Bemühungen um Beschleunigung sind fast so alt wie die erstinstanzliche Zuständigkeit des BVerwG für Großverfahren und haben nur sehr bedingt Erfolge gezeitigt: Wenn man beschleunigt, läuft man immer auch Gefahr, dass man mit dem übergeordneten EU-Recht oder den verfassungsrechtlichen Anforderungen etwa an das rechtliche Gehör in Schwierigkeiten kommt. So hatten wir lange Zeit eine strenge Präklusionsregelung, die der EuGH mit einem Federstrich für unionsrechtswidrig er klärt hat. Außerdem werfen nahezu alle Änderungen im Prozessrecht neue Fragen auf. Wenn sich dann die Behörden und Gerichte auf die Neuerungen eingestellt und Zweifelsfragen geklärt haben, kommen oft schon wieder neue „Beschleunigungen“, die nicht selten den alten Zustand mehr oder weniger wiederherstellen. Gegenwärtig steht ein Referentenentwurf des BMJ, der weitere Maßnahmen zur Beschleunigung der verwaltungsgerichtlichen Verfahren bringen soll, zur Diskussion. Die Planungssenate des BVerwG und auch die Rechtsanwaltsverbände haben sich unisono sehr kritisch dazu geäußert, weil vieles, was darin verbindlich vorgegeben wird, jetzt schon möglich und Praxis ist, aber flexibler gehandhabt werden kann.
Das größere Problem scheint mir auch woanders zu liegen: An den OVGs ist die erstinstanzliche Zuständigkeit zB von Windenergieanlagen konzentriert worden. Doch diese Klagen können nur dann schnell abgearbeitet werden, wenn dort die personellen und sachlichen Ressourcen vorhanden sind. Und wenn dann an einem Gericht lange Zeit Vakanzen sind und die Besetzung von mehreren Richterstellen durch die Landesjustizverwaltungen nicht mit der erforderlichen Voraussicht und Nachdruck betrieben wird, kann das nicht ohne Auswirkungen auf die Dauer von Prozessen bleiben. Das BVerwG wird im Übrigen im Gegensatz dazu gut mit Personal versorgt. Im nächsten Jahr sollen wir über unseren eigentlichen Bedarf hinaus einen weiteren Senat bekommen, der sich vornehmlich mit eilbedürftigen Planungsverfahren befassen kann.
NJW: Wie sehr belasten Corona-Klagen Ihr Gericht?
Korbmacher: Anfang November haben wir die ersten beiden Corona-Verfahren bei uns verhandeln. Das sind Revisionen in Normenkontrollverfahren gegen eine sächsische und eine bayerische Verordnung. Die haben natürlich Pilotcharakter. Die meisten Verfahren sind aber im vorläufigen Rechtsschutz gelaufen, und da gibt es nur zwei Instanzen.
NJW: Gibt es bei uns eine überzogene Streitkultur?
Korbmacher: Statistisch geht die Streitbereitschaft zurück – die obersten Bundesgerichte, auch wir, verzeichnen in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang ihrer Eingangszahlen. Das gilt auch für die unteren Instanzen. Aber bei Großprojekten ist die grundsätzliche Opposition in Deutschland wahrscheinlich ausgeprägter als anderswo: Die Betroffenen wehren sich stärker, und Verbände versuchen mit größerer Vehemenz, Vorhaben zu verhindern. Gerade bei Windkraftanlagen finden sich auch viele Gemeinden und Bürgerinitiativen, die eine Realisierung auf ihrem Gebiet verhindern wollen. Da gibt es eine ausgeprägte Not-in-my-backyard-Mentalität leider auch im kommunalen Bereich. Es fehlt das Gefühl dafür, dass man für gemeinschaftliche Projekte auch Einschränkungen und Opfer bringen muss.
Prof. Dr. Andreas Korbmacher (Jahrgang 1960) stammt aus Freiburg. Seine Laufbahn als Richter begann 1998 am LG Berlin. Zwei Jahre später wechselte er ans dortige VG. Nach Abordnungen an den BerlVerfGH und die Senatsverwaltung für Justiz war er ab 2003 am OVG Berlin (später OVG Berlin-Brandenbrug) tätig; 2005 wurde er dort zum Vorsitzenden ernannt. Seit 2008 ist Korbmacher Richter am BVerwG, seit 2017 Vorsitzender. Seit 2019 ist er dessen Vizepräsident, seit vergangenem September Präsident. Nebenher ist er Honorarprofessor an der TU Berlin.
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