Report

Ver­bre­cher spie­len Ga­no­ven
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Mark Schulze Steinen

Thea­ter im Knast und ge­spielt aus­schlie­ß­lich von Ge­fan­ge­nen – eine un­ge­wöhn­li­che Er­fah­rung. Wenn das vor über 25 Jah­ren ge­grün­de­te Pro­jekt „auf­Bruch“ zur Vor­stel­lung in einer der Ber­li­ner Jus­tiz­voll­zugs­an­stal­ten ein­lädt, sind die Kar­ten schnell aus­ver­kauft. Bei der Auf­füh­rung eines Stücks von Ber­told Brecht mit ak­tu­el­len Be­zü­gen prä­sen­tier­te sich jetzt ein er­staun­lich pro­fes­sio­nel­les En­sem­ble.

16. Okt 2023

Päd­ago­gi­sche Ab­sicht des Ver­an­stal­ters ist es si­cher nicht, aber schon der Weg zur Spiel­stät­te lässt die ­Besucher ein klein wenig ahnen, wie sich Ein­ge­sperrt­sein an­füh­len muss. Grup­pen­wei­se wer­den die rund 150 Zu­schau­er pro Abend durch die Sicherheitskon­trollen ge­schleust, kurz durch­sucht und dann über das weit­räu­mi­ge Ge­län­de eines der grö­ß­ten Ge­fäng­nis­se Deutsch­lands (Bau­jahr: ab 1898) ge­lei­tet. 670 er­wach­se­ne Män­ner mit mitt­le­ren, lan­gen sowie le­bens­lan­gen Frei­heits­stra­fen sit­zen hier der­zeit ein – und auch ­solche mit Si­che­rungs­ver­wah­rung. Vor­bei an einem ein­ge­zäun­ten Sport­platz geht es, an einem Out­door-Schach­brett, einer ei­ge­nen Gärt­ne­rei und lau­ter gro­ßen Son­nen­blu­men am We­ges­rand.

Aber auch hin­durch durch einen still­ge­leg­ten Zel­len­trakt, in dem ein­zel­ne Türen of­fen­ste­hen. „So eng hätte ich mir das da drin nicht vor­ge­stellt“, mur­melt eine Be­su­che­rin. Zwi­schen den Eta­gen sind die üb­li­chen Netze ge­spannt, die Selbst­mor­de ver­hin­dern sol­len. Der „Thea­ter­saal“ ist der ehe­ma­li­ge Hof für die Frei­stun­den in die­ser Teil­anstalt – eine Open-Air-Ver­an­stal­tung ohne Über­dachung. „Wet­ter­ge­rech­te und warme Be­klei­dung ist un­be­dingt zu emp­feh­len!“, war­nen die Ver­an­stal­ter vorab: „Re­gen­schir­me sind auf dem Ge­län­de der JVA nicht ge­stat­tet.“ Geld und Han­dys müs­sen ab­ge­ge­ben wer­den – so­lan­ge ist man­cher sonst nie von sei­nem Smart­pho­ne ge­trennt.

Bunt ge­mischt und eng an eng sitzt das Pu­bli­kum auf einer Tri­bü­ne – von der Schü­le­rin bis zum Rent­ner. Man­che sind Dau­er­gast, ge­ne­rell bei Thea­ter­auf­füh­run­gen oder auch spe­zi­ell in all den teil­neh­men­den Knäs­ten in der Bun­des­haupt­stadt wegen des ir­gend­wie gru­se­lig-exo­ti­schen Cha­rak­ters der Events. Man­che sind An­ge­hö­ri­ge der Mimen. Na­tür­li­che Ku­lis­se sind die Ge­bäu­de­trak­te mit ver­git­ter­ten Fens­tern. Die ei­gent­li­che Bühne: Zwei Con­tai­ner, die beim Sze­nen­wech­sel von den Dar­stel­lern immer wie­der ge­schwind ge­wen­det wer­den, um deren kahle Rück­wand oder di­ver­se In­nen­räu­me mit we­ni­gen Re­qui­si­ten zu zei­gen. Mit Trep­pen er­schlos­se­ne Auf­bau­ten brin­gen viel Tempo ins Spiel, das oft wie eine Revue da­her­kommt. Das Pro­jekt „auf­Bruch“ ist eine vom Ber­li­ner Senat sub­ven­tio­nier­te gGmbH mit fes­tem Mit­ar­bei­ter­stamm.

Gang­ster­boss sym­bo­li­siert Hit­ler

Ge­ge­ben wird Brechts „Der auf­halt­sa­me Auf­stieg des Ar­tu­ro Ui“. Eins sei­ner ty­pi­schen Lehr­stü­cke, mit denen er durch sein „epi­sches Thea­ter“ Ab­schied neh­men woll­te vom tra­di­tio­nel­len Klas­si­ker­stil, der Ein­zel­schick­sa­le als Drama schil­dert. Dies hier ist vor­der­grün­dig eine Ga­no­ven­ko­mö­die mit al­ler­lei Kla­mauk und tö­nen­der Zwi­schen­mu­sik mit Tuba, Trom­pe­te und Ak­kor­de­on von drei Künst­lern der Band „Die 17 Hip­pies“ (wie der Name der Band sieht das Trio in sei­nen Kos­tü­men al­ler­dings nicht aus). Ge­schrie­ben 1941 im fin­ni­schen Exil kurz vor dem Wech­sel Brechts in die USA, ist es eine Pa­ra­bel auf den Auf­stieg Adolf Hit­lers bis ein­schlie­ß­lich des deut­schen Ein­marschs in Ös­ter­reich im Jahr 1938; ver­frem­det ge­schil­dert durch die Ver­le­gung der Hand­lung ins Chi­ca­go jener Jahre.

Die Indus­trie und die Jun­ker, für Brecht Ge­burts­hel­fer der Nazis, wer­den durch einen Trust von Kar­fi­ol-Händ­lern (einem ös­ter­rei­chi­schen Wort für Blu­men­kohl) sym­bolisiert. Reichs­prä­si­dent Paul von Hin­den­burg, der nach an­fäng­li­chem Zö­gern Hit­ler an die Macht ver­half, ist hier ein Po­li­ti­ker na­mens Dogs­bo­rough. Und der Reichs­kanz­ler ein Gangs­ter­chef na­mens Ar­tu­ro Ui mit sei­nen Schlä­ger­trupps, eine Art Al Ca­po­ne. Di­ver­se Ne­ben­strän­ge – so eine aus­ge­schmück­te Ana­lo­gie zum Schau­pro­zess nach dem Reichs­tags­brand unter reger Be­glei­tung der Pres­se – und et­li­che wei­te­re Per­so­nen fül­len eine straf­fe Auf­füh­rung von ein­drei­vier­tel Stun­den Dauer ohne Pause. Der letz­te Satz: „Der Schoß ist frucht­bar noch, aus dem das kroch!“

„Der Mensch wird nie aus ei­ge­nem An­trieb sei­nen Brow­ning weg­le­gen“, de­kla­miert Ui: „So­lang’ ich nicht schieß’, schie­ßt der an­de­re!“, dient er sich Dogs­bo­rough an, um vor­geb­lich mit dem pa­tro­nen­rei­chen ­Unterweltchaos in der Stadt auf­zu­räu­men. Re­gis­seur ­Peter At­a­nas­sow, ein ge­lern­ter Profi von „drau­ßen“, hat des­sen Haupt­rol­le gleich auf zwei Ama­teur­dar­stel­ler auf­ge­teilt, die sich mit ihren Glat­zen durch­aus ähn­lich sehen – einer (Robin) spielt den jün­ge­ren Ma­fia­boss mit schalk­haft-ver­schmitz­ter Über­stei­ge­rung. Seine ein­zi­ge Büh­nen­er­fah­rung hatte er vor 20 Jah­ren als Hip-Hop-Tän­zer, wie er spä­ter der NJW er­zählt. Jedes Jahr aufs Neue hofft er hier auf seine Frei­las­sung, weil er in Si­che­rungs­ver­wah­rung steckt. Über­haupt ist es kei­nes­wegs ein durch­gän­gi­ges Tabu, nach dem Haft­grund zu fra­gen. Doch mehr soll hier über die­sen „Kna­cki“, der dem Re­por­ter neben De­tails sei­nes Serien­delikts auch sei­nen vol­len Namen nennt, nicht ver­ra­ten wer­den.

Män­ner mimen Frau­en

Der äl­te­re Ui hin­ge­gen ist ein Ve­te­ran des Knast­thea­ters: H. Peter Maier C.d.F., der in schwar­zer Uni­form­ja­cke mit Phan­ta­sie­ab­zei­chen und leicht schnar­ren­der Stim­me den Dik­ta­tor mimt. Beide ver­ste­hen es, mit dro­hen­den Ge­bär­den schon beim Um­her­schrei­ten zu de­mons­trie­ren, wie sie durch Ein­schüch­te­rung und Ter­ror zum Ziel kom­men. Spä­ter putscht er sei­nen ehe­ma­li­gen Leut­nant Er­nes­to Roma (er steht für Ernst Röhm, der die Kampf­trup­pe der NSDAP, die SA, auf­ge­baut hatte) weg. Nur zu hören ist dies durch dump­fe Ge­räu­sche, bevor mit zu­frie­de­nem Grin­sen seine Auf­trags­mör­der mit rot ver­schmier­ten Hand­tü­chern vor die Con­tai­ner tre­ten. Frau­en­rol­len wer­den von Män­nern in schril­len Kos­tü­men und teils in Netz­strümp­fen über­nom­men, was die Zu­schau­er mit wohl­wol­len­dem La­chen für die Farce quit­tie­ren. „Lili Mar­le­en“ oder „Mein klei­ner grü­ner Kak­tus“ bil­den fet­zi­ge Ge­sangs­ein­la­gen.

Was mo­ti­viert die 16 Häft­lin­ge – al­le­samt Laien – zur Teil­nah­me an den im­mer­hin sie­ben Wo­chen lang täg­lich statt­fin­den­den Pro­ben, und das nach dem re­gulären Ar­beits­ein­satz mit Aus­rü­cken mor­gens um 6.45 Uhr? Zum Aus­wen­dig­ler­nen lan­ger Texte, die Brecht viel­fach in Reim­form ver­fasst hat und teil­wei­se stak­ka­to­haft in un­na­tür­li­cher Be­to­nung vor­tra­gen lässt? Zum Sin­gen, Tan­zen und vor allem sich selbst Dar­bie­ten auf of­fe­ner Bühne? Robin, seit sie­ben Jah­ren in Tegel, spricht von Neu­gier und Spaß am Auf­tre­ten. Au­ßer­dem such­te er nach Ab­schluss sei­ner Aus­bil­dung zum Holz­me­cha­ni­ker hin­ter den Mau­ern eine neue Be­schäf­ti­gung. Und bei dem Stück geht es um viele The­men, die auch zu den von den In­sas­sen be­gan­ge­nen Ver­bre­chen ge­hö­ren: Macht und Kampf, ­Gewalt und Jus­tiz. „Ag­gres­siv und wü­tend sein sind auch etwas in mei­ner Per­sön­lich­keit ver­an­kert“, sagt er mit be­tö­ren­dem Charme. Der Re­gis­seur habe bei der Zu­tei­lung der Rol­len ge­fun­den, diese würde zu ihm pas­sen.

Was be­deu­tet das Mit­spie­len für die Po­si­ti­on in der Gefängnis­hierarchie? Ganz oben stün­den die Si­che­rungs­ver­wahr­ten, er­läu­tert er. Die könn­ten schlie­ß­lich immer dro­hen: „Ich kann Dich weg­ma­chen – ich komme hier so­wie­so nicht mehr raus!“ Für die Dar­steller be­deu­te ihr En­ga­ge­ment einen ge­wis­sen Schutz: „Komm, lass’ den in Ruhe!“, werde da eher ge­sagt. „Die Kom­mu­ni­ka­ti­on in der Trup­pe sorgt mehr für Frie­den als für Krieg.“ Und auch Lob ernte man manch­mal von an­de­ren In­haf­tier­ten.

„Du bist nicht Deine Ver­gan­gen­heit!“

Vie­len Mit­spie­lern hört man an, dass Deutsch nicht ihre Mut­ter­spra­che ist, son­dern etwa tür­kisch oder ara­bisch. Trotz­dem spielt Jimmy Jar­musch, ein ge­bür­ti­ger Ke­nia­ner, sogar den vom Au­to­ren des Stücks vor­ge­ge­be­nen An­sa­ger. „Das ist eine Chan­ce, mal etwas Neues aus­zu­pro­bie­ren“, er­klärt ge­win­nend der Büh­nen-No­vi­ze. „Au­ßer­dem ist das Stück eine Re­flek­ti­on zu der Zeit, in der wir leben“, sagt er – und gibt zu ver­ste­hen, dass er die wach­sen­de Wäh­ler­schaft der AfD meint. Neue Freund­schaf­ten habe er im En­sem­ble ge­schlos­sen: „Das ist ein tol­les Team mit Ver­trau­en zu den Kol­le­gen.“ Si­cher eine sel­te­ne Wäh­rung hin­ter Git­tern. Vor allem: „Es be­freit den Geist, wenn man den gan­zen Tag in der Ein­zel­zel­le hockt.“ Jimmy deu­tet an, dass er wegen Wi­der­stands rund zwei Jahre lang sitze. Seine Bot­schaft: „Du bist nicht Deine Ver­gan­gen­heit!“

Als die Auf­füh­rung mit einer Par­al­lel­hand­lung zur Be­set­zung Ös­ter­reichs endet, ist lang­sam küh­ler Wind auf­ge­kom­men; es wird schon etwas dun­kel. Das Pu­bli­kum klatscht und tram­pelt, das ge­sam­te En­sem­ble be­kommt einen „Vor­hang“ nach dem an­de­ren. Ein Straf­ver­tei­di­ger lobt das hohe Ni­veau: „Selbst meine ex­trem thea­ter­kri­ti­sche Frau hatte nichts aus­zu­set­zen.“ Sehr be­we­gend und be­ein­dru­ckend fand er die Ver­an­stal­tung. Als pro­fes­sio­nel­ler Ge­fäng­nis­be­su­cher hatte er den Ein­druck, dass die Schlie­ßer an­ge­sichts des Hau­fens an Be­su­chern ner­vö­ser ge­we­sen seien als sonst. Aber auch man­chem der Schau­spie­ler möge man an­ge­sichts sei­ner Taten nicht gerne nachts auf der Stra­ße be­geg­nen, merkt er an.

Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung.