Urteilsanalyse
Unzulässige Beschränkung der Teilnehmerzahl einer Eigentümerversammlung unter Berufung auf die Corona-Pandemie
Urteilsanalyse
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Die Corona-Pandemie rechtfertigt regelmäßig keine Beschränkung der Personsanzahl auf einer Eigentümerversammlung auf einen Wert unterhalb der teilnahmeberechtigten Eigentümer incl. Verwalter. Spricht die Einladung zu einer Versammlung ohne ausreichende Rechtfertigung eine solche Beschränkung aus, so sind nach einem Urteil des AG Kassel vom 27.08.2020 die auf der Versammlung getroffenen Beschlüsse wegen Eingriffs in den Kernbereich des Wohnungseigentums nichtig.

9. Okt 2020

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Bub und Rechtsanwalt Nikolay Pramataroff
Rechtsanwälte Bub, Memminger & Partner, München, Frankfurt a.M.

Aus beck-fachdienst Miet- und Wohnungseigentumsrecht 19/2020 vom 08.10.2020

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Sachverhalt

Die Antragstellerin begehrt die Aussetzung der Vollziehung eines von ihr in einem gesonderten Verfahren angefochtenen Beschlusses der Eigentümerversammlung der Wohnungseigentumsgemeinschaft A.

Die Parteien bilden die vorgenannte Gemeinschaft. Sie umfasst 13 Eigentumseinheiten, die im Eigentum von 11 Personen stehen. Mit Schreiben vom 06.07.2020 lud die Hausverwaltung zur Eigentümerversammlung auf den 22.07.2020. Im Einladungsschreiben formulierte die Verwaltung wie folgt:

„Aufgrund der Größe der Sitzungsräume muss die Anzahl der anwesenden Eigentümer bei dieser Versammlung beschränkt werden (10 Personen inkl. Verwalter). Erteilen Sie deshalb möglichst dem Verwaltungsbeirat oder der Verwaltung die Vollmacht für die Teilnahme an der Versammlung. […] Der Verwalter behält sich vor, die Versammlung nicht durchzuführen, sofern die Höchstzahl der Anwesenden überschritten wird und keine einvernehmliche Regelung am Versammlungstag dazu getroffen werden kann.“

In der Versammlung erfolgte zum Tagesordnungspunkt 9 eine Beschlussfassung über den Anstrich der Gebäudefassade inklusive Algenschutz. Diese Beschlussfassungen hat die Antragstellerin im parallelen Hauptsacheverfahren 800 C 2510/20 angefochten, wobei eine Entscheidung noch nicht getroffen ist. Die Hausverwaltung kündigte an, ab September 2020 den Beschluss umsetzen zu lassen. Zwischen den Parteien ist streitig, ob die konkret beschlossene Maßnahme unter den Gesichtspunkten des Gesundheitsschutzes und des Umweltschutzes tauglich ist.

Die Antragstellerin beantragt, im Wege der einstweiligen Verfügung die Vollziehung des in der Eigentümerversammlung vom 22.07.2020 zu Tagesordnungspunkt 9 gefassten Beschlusses einstweilen bis zum Abschluss des Beschlussanfechtungsverfahrens der Parteien vor dem Amtsgericht Kassel zum Az. 800 C 2510/20 bis längstens zum Ablauf etwaige Rechtsbehelfsfristen bezüglich einer Instanz abschließenden Entscheidung auszusetzen.

Entscheidung

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung hat Erfolg.

Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf Aufschub der Vollziehung der von ihr im Verfahren 800 C 2510/20 angefochtenen Beschlussfassung der Eigentümerversammlung der Wohnungseigentümergemeinschaft A vom 22.07.2020.

Zwar überwiege trotz des eingeleiteten Beschlussanfechtungsverfahrens regelmäßig das Vollziehungsinteresse bezüglich des angefochtenen Beschlusses das Aussetzungsinteresse des jeweiligen Anfechtungsklägers. Im vorliegenden Fall komme es jedoch darauf nicht an, weil der angegriffene Beschluss nicht lediglich anfechtbar, sondern nichtig im Sinne von § 23 Abs. 4 Satz 1 WEG sei.

Die Nichtigkeit eines Beschlusses einer Wohnungseigentümergemeinschaft sei in einem gerichtlichen Verfahren jederzeit von Amts wegen zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn sich eine Partei nicht explizit darauf berufe, da die Nichtigkeit für und gegen alle Beteiligten auch ohne ausdrückliche Geltendmachung wirke.

Der Beschluss sei nichtig, wenn er seinem Inhalt nach gegen zwingende Vorschriften oder die guten Sitten verstoße, zu unbestimmt sei, es an der Beschlusskompetenz der Wohnungseigentümer fehle, gegen Grundsätze des Wohnungseigentumsrechts verstoße oder in den Kernbereich des Wohnungseigentums eingreife. Letzteres sei hier in Anwendung des im einstweiligen Verfügungsverfahren gebotenen summarischen Prüfungsmaßstabes der Fall.

Ein solcher Eingriff in den Kernbereich des Wohnungseigentums liege insbesondere dann vor, wenn einem Wohnungseigentümer unentziehbare Mitwirkungsrechte ganz oder teilweise entzogen werden. Insbesondere dürfen Teilnahmerecht und Stimmrecht eines Wohnungseigentümers allenfalls ausnahmsweise eingeschränkt werden. Dies sei hier jedoch ohne Vorliegen eines hinreichenden Ausnahmefalles geschehen, weil die Einladung vom 06.07.2020 impliziere, dass mindestens zwei Wohnungseigentümer von der Teilnahme an der Eigentümerversammlung ausgeschlossen werden. Denn eine Vollversammlung aller Wohnungseigentümer der Eigentümergemeinschaft A würde die Anwesenheit von 12 Personen erfordern, zähle man den Verwalter hinzu, der im vorliegenden Fall nicht mit einem der Wohnungseigentümer personenidentisch sei.

Die oben zitierte konkrete Formulierung in der Einladung deute darauf hin, dass lediglich zehn Personen unter Einschluss des Verwalters an der Versammlung teilnehmen dürfen. Dies bedeute, dass zwingend zwei Personen nicht persönlich teilnehmen dürfen, sondern von der Ausschließung bedroht seien. Auch der Hinweis, dass eine Vertretung durch einen Bevollmächtigten anderen Teilnehmer, etwa Verwaltungsbeirat oder Verwalter, grundsätzlich möglich sei, vermöge daran nichts zu ändern. Denn auch zur Erteilung einer entsprechenden Vollmacht könne ein Wohnungseigentümer nicht gezwungen werden, da das Recht zu persönlichen Teilnahme zum Kernbereich zähle. Dies sei bereits deswegen der Fall, weil es sich bei der Wohnung um eines der elementaren Bedürfnisse eines Menschen handle und/oder auch im Falle der Vermietung einer Eigentumswohnung ein erhebliches, regelmäßig im Gesamtpanorama eines Wohnungseigentümers signifikant herausragendes wirtschaftliches Interesse betroffen sei.

Auch der weitere Hinweis, dass der Verwalter im Falle, dass sich die anwesenden Wohnungseigentümer einvernehmlich auf eine anderweitige Regelung der Teilnehmerzahl verständigen, die Versammlung gleichwohl durchführen könne, vermöge daran nichts zu ändern. Es komme entscheidend darauf an, ob im Vorfeld der Versammlung durch die Einladung ein Druck erzeugt werde, von der Teilnahme der Versammlung Abstand zu nehmen. Dies könne dazu führen, dass ein Wohnungseigentümer alleine aufgrund der Formulierung der Einladung trotz der zitierten Öffnungsklauseln von vornherein von seinem Erscheinen absehe, um nicht einer ansonsten drohenden Absage der Eigentümerversammlung oder gar einem Zwangsausschluss unterworfen zu werden. Denn die Formulierung der Einladung sei geeignet, einen psychischen Zwang bei den einzelnen Wohnungseigentümern auszulösen, der sie von der Wahrnehmung ihrer Kernrechte abhalte.

Auch die derzeit herrschende Corona-Pandemie rechtfertige ein derartiges Vorgehen nicht. Zum einen sei jedenfalls zum Zeitpunkt der Einladung und der Versammlung die Durchführung einer solchen Versammlung nicht schlechterdings untersagt gewesen. Nach § 1 Abs. 2b Satz 1 lit. b der Verordnung zur Beschränkung von sozialen Kontakten und des Betriebes von Einrichtungen und von Angeboten aufgrund der Corona-Pandemie vom 07.05.2020 des Landes Hessen sind Zusammenkünfte von bis zu 250 Personen zulässig, wenn geeignete Schutzmaßnahmen vorhanden seien. Mithin sei für die hier durchzuführende Eigentümerversammlung die Beschränkung auf 10 Personen für Aufenthalte im öffentlichen Raum gemäß § 1 Abs. 1 dieser Verordnung hier nicht einschlägig gewesen.

Unbeachtlich sei die Frage, ob tatsächlich auch aus anderen Gründen einige Eigentümer der hier streitenden Eigentümergemeinschaft ungeachtet des Einladungstextes nicht auf der Versammlung vom 22.07.2020 erschienen waren. Denn es komme nicht darauf an, ob die psychische Zwangslage tatsächlich erzeugt worden sei, sondern lediglich, ob im Vorfeld die Einladung geeignet sei, einen solchen Zwang zu erregen. Denn aus der Art und Weise der konkreten Einladung vom 06.07.2020 sei bereits unschwer zu entnehmen, dass eine solche Zwangslage beschrieben bzw. hervorgerufen sei.

Praxishinweis

Nach der sog. Kernbereichslehre ist ein Beschluss nichtig, wenn er in den Kernbereich des Wohnungseigentums eingreift, so etwa, wenn sein Stimmrecht oder – wie vorliegend – seine Teilnahme an der Versammlung eingeschränkt wird (BGH, Urteil vom 10.12.2010 - V ZR 60/10, DStR 2011, 635). Da ein Teilnahmeberechtigter ein Recht auf Anwesenheit hat (Schultzky in Jennißen, WEG, 6. Auflage 2019, § 24 WEG Rn 69), kann er grundsätzlich nicht gezwungen werden, sich bei der Versammlung vertreten zu lassen.

AG Kassel, Urteil vom 27.08.2020 - 800 C 2563/20, BeckRS 2020, 22007